Wo liegt denn Gortyn, wird sich mancher fragen, der diesen uralten Ort nicht kennt. Die attraktive Kulturstätte auf der griechischen Großinsel weckt mittlerweile bei immer mehr Reisenden Interesse, nicht nur bei Geschichtsbeflissenen, auch bei Gläubigen, Rechtshistorikern oder Bewunderern griechisch-römischer Architektur.
Gortyn ist von Heraklion, Kretas Hauptstadt, in südlicher Richtung leicht zu erreichen. Aber erstmal muss man nach Heraklion und überhaupt nach Griechenland kommen. Die meisten Besucher erreichen das Land per Flugzeug. Wir nicht – wir sind zunächst über Nacht mit dem Zug aus München nach Venedig gereist. Vor der Abfahrt des Schiffs war noch eine Menge Zeit bis zur Abfertigung – Zeit zum Plaudern mit den wenigen anderen Fuß-Passagieren und den zahlreichen Motorradfahrern aus Regionen nördlich der Alpen. Dank reichlicher Verspätung der Anek-Fähre konnten wir anschließend zwei volle Nächte (statt nur einer) auf dem Schiff von Venedig nach Patras verbringen – erfreulich für Leute wie uns, die gern über Land und Meer anreisen. Fähren-Fahrten sind viel ungezwungener als Kreuzfahrten und ohnehin erlebnisreicher als Fliegen.
Einstimmung für das Wahrzeichen
Patras war im Mai nicht überlaufen. Der Hafen am gleichnamigen Golf hat eine sehenswerte neue Kathedrale, ein historisches Museum, eine durchaus lebhafte Fußgängerzone – und einen Burgberg, von dem aus man die Stadt, das Meer und die Berge dahinter überblickt. Mit einem Überlandbus besuchten wir dann via Pyrgos die gepflegten antiken Sportstätten von Olympia auf der Peloponnes. Später brachte uns ein Express-Bus über Korinth nach Athen. In der Metropole diente das Akropolis-Museum zur Einstimmung auf den Besuch des berühmten gleichnamigen Wahrzeichens der Hauptstadt. Das deutsche Kulturinstitut, nach Goethe benannt, bot über eine informative App einen hochinteressanten Einblick in die griechische Geschichte, Kultur und die zwischenstaatlichen Beziehungen – in deutscher Sprache.
Auf den Stufen der Propyläen … nur mehr wenige Schritte bis zum Parthenon
Von Säulen zu Motoren
Einblicke ganz anderer Art eröffnete das Hellenic Motor Museum, das zu den bedeutendsten Automuseen in Europa zählt und Oldie-Fans aus aller Welt anzieht. Ein Besuch dort, mitten im geschäftigen Stadtzentrum, lohnte sich in jedem Fall. Athen hat somit außer Jahrtausende alten Attraktionen auch solche aus den letzten beiden Jahrhunderten zu bieten. Unter den ausgestellten „Objekten der Begierde“ befinden sich bekannte Modelle deutscher Automarken, wie etwa Mercedes, Porsche und BMW, aber auch frühere Fabrikate wie Borgward und Auto Union. Selbst ein deutsch-griechisches Gemeinschaftsprodukt ist dabei: ein Alta (mit Heinkel-Motor) als absolute Rarität. In Piräus, dem Fährhafen nach Kreta, legte wenige Tage später am Abend ein Schiff der Minoan-Gesellschaft mit uns ab. Vom achten Deck aus sah man die letzten Fahrzeuge an Bord fahren. Langsam wurde es dunkel – Zeit für einen Ouzo! Die Bars hatten noch lang geöffnet. Über Nacht, in weniger als zehn Stunden und nach einer ruhigen Überfahrt, erreichten wir schließlich Heraklion. Die Hauptattraktion der Insel, die antike Ruinenstätte von Knossos, war unser erstes Ziel. Die Palastruinen, noch aus der Minoerzeit stammend und fast 4000 Jahre alt, wird kein Kreta-Tourist links liegen lassen.
2500 Jahre alter Codex
Ein weiteres Must für uns war Gortyn. Ein Linienbus überwand auf teils recht kurvenreicher Straße das Nida-Gebirge, vorbei ging es an Olivenhainen und Weinbergen. In der Messara-Ebene gelegen war Gortyn in vorchristlicher Zeit Hauptstadt der römischen Provinz Creta. Der Reiseapostel Paulus hat hier Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. gelehrt; sein Schüler Titus war der erste Bischof der Insel, nach ihm wurde die Basilika von Gortyn benannt. Der interessanteste archäologische Fund aus dieser historischen Stätte ist sicher der sogenannte Gesetzescodex von Gortyn aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. Der Codex ist also rund 2500 Jahre alt und damit der älteste Vorschriftenfund Europas. Auf 42 Steinblöcken wurden insbesondere Regelungen zum Familien-, Erb-, und Strafrecht eingemeißelt. Die Schriftzeichen wurden in der einen Zeile von links nach rechts geschrieben, in der nächsten von rechts nach links. Dieses epochale Regelwerk ist erstaunlicherweise relativ unbekannt.
D
er interessanteste archäologische Fund in Gortyn ist der in Stein gemeißelte Gesetzescodex aus dem 5. Jahrhundert v. Chr.
Hippie-Hochburg Matala
Ein völliges Kontrastprogramm bot abschließend das nur etwa 25 Kilometer entfernt in einer geschützten Bucht liegende Matala. Einst ein kleines Fischerdorf, wurde es in den 70er Jahren mit seinem Sandstrand zu einer Hippie-Hochburg. Die seinerzeit in Felshöhlen hausenden Aussteiger lebten nach eigenen, unkonventionellen Regeln und verspürten offenbar wenig Lust, sich näher mit den archaischen Vorschriften von nebenan zu befassen ...
Matala: vom kleinen Fischerdorf zu einer Hippie-Hochburg in den 1970ern
Text und Fotos von Hermann Neidhart
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 830 am 29. Juni 2022