Während des Zweiten Weltkrieges wurden in Griechenland an den unterschiedlichsten Orten Kriegsverbrechen begangen. Kalavryta steht für den Autor dieses Beitrags als Synonym für begangene Mordtaten im ganzen Land. Er fragt sich: Kann man hier als deutsche Familie Urlaub machen? Wie erklärt man das Kindern?
Wenn ich Kalavryta höre, dann denke ich nicht zwangsläufig an die bezaubernde Bergwelt im Norden der Peloponnes mit ihren Skifahrmöglichkeiten im Winter. Mir kommen auch nicht unbedingt die nahegelegenen Klöster in den Sinn, die während des griechischen Unabhängigkeitskampfes gegen die Osmanen von impulsgebender Bedeutung waren. Automatisch denke ich an das Massaker von Kalavryta, welches Wehrmachtssoldaten im Dezember 1943 verübten. Es gibt diese besonderen Orte auf der Welt, die mit einem bestimmten Ereignis in Verbindung gebracht werden: Waterloo, Tschernobyl, Hiroschima, um nur drei zu nennen. Während des Zweiten Weltkrieges wurden in Griechenland an den unterschiedlichsten Orten Kriegsverbrechen begangen. Doch Kalavryta steht für mich als Synonym für begangene Mordtaten im ganzen Land. Kann man hier als deutsche Familie Urlaub machen?
Der Weg nach Kalavryta
Es gibt mehrere Wege nach Kalavryta. Der schönste führt mit dem Zug in die 2.000 Einwohner zählende Kleinstadt. Wir stehen erwartungsfroh am Bahnhof von Diakopto. Der Ort am Golf von Korinth ist Ausgangspunkt einer 22 Kilometer kurzen Bahnstrecke, die durch die raue Gebirgswelt der Vouraikos-Schucht führt. Die Bahnstrecke existiert seit 1896 und sollte ursprünglich die Nordküste mit dem Binnenland der Peloponnes verbinden. Aus Kostengründen wurde jedoch nur bis Kalavryta gebaut. Endlich rollt der kleine, moderne Zug ein. Er ist eine Schmalspurbahn mit einer Spurweite von lediglich 75 Zentimetern. Als Zahnradbahn meistert das Fahrzeug mühelos auch die steilen Streckenabschnitte. Kurioserweise ist die Bahnstrecke gleichzeitig ein Teil des Europawanderweges 4. In Zachlorou verlassen wir daher den Zug, um selbst ein Stück auf den Schienen zu wandern. Die steilen Gebirgswände, die Höhlen, das üppige Grün der Pflanzenwelt beeindrucken uns sehr. Wir wandern zum kleinen Flüsschen mit seinen schäumenden Stromschnellen. Unzählige blau leuchtende Libellen tanzen über die Wasseroberfläche. Würden wir jetzt eine Nymphe aus der griechischen Mythologie sehen, wir wären nicht verwundert. In der Nähe dieses friedlichen Platzes befindet sich jedoch auch ein Ort des Kampfes und des Todes.
Das Kloster Mega Spileio
Wir erreichen das Kloster Mega Spileio. Auf den ersten flüchtigen Blick sieht das mehrstöckige Bauwerk wie ein Hotel aus, welches sich an einen steil aufragenden Felsen schmiegt. Hier wird eine Marien-Ikone verehrt, die der Evangelist Lukas gemalt haben soll. Ausgestellte Kanonen und Gemälde mit Kampfszenen zeigen schnell, dass das Kloster nicht nur ein Ort des Gebetes, sondern auch ein Ort des Widerstandes war. Insbesondere während des griechischen Befreiungskampfes gegen die Osmanen vor 201 Jahren diente es als Rückzugsort der Rebellen. Als die Wehrmacht im Dezember 1943 in Kalavryta wütete, blieb auch das Kloster nicht verschont. Eine Infotafel erinnert an die ermordeten Klosterbewohner im Alter von 14 bis 88 Jahren. Die Infotafel entdecken meine Kinder nicht. Sie spielen stattdessen mit einer kleinen neugierigen Katze. Ich atme auf. Das Thema möchte ich hier noch nicht ansprechen.
Spaziergang durch den Ort
Als unsere Familie Kalavryta erreicht, sehen wir nur wenige, zumeist griechische, Touristen. Die zahlreichen Lokale und Souvenirgeschäfte in der Fußgängerzone lassen den Trubel während der winterlichen Skisaison erahnen. Ich hatte von einer Kirchenuhr gelesen, deren Ziffernblatt in Erinnerung an den Beginn des Massakers stets 14.34 Uhr anzeigt. Natürlich haben meine Kinder mit den Erschießungen nichts zu tun, trotzdem nehme ich sie nun beiseite: „Hier haben vor achtzig Jahren deutsche Soldaten beinahe alle männlichen Einwohner umgebracht. Ich werde euch später noch mehr erzählen. Doch könnt ihr verstehen, warum es gut sein kann, sich nicht allzu laut auf Deutsch zu unterhalten?“ Meine acht und zwölf Jahre jungen Kinder nicken. „Es kann gut sein, dass Deutsche hier nicht besonders beliebt sind“, antwortet meine Tochter schließlich. „Richtig“, lobe ich sie, „auf der anderen Seite ist es gut von uns, dass wir in Kalavryta sind und uns der Geschichte stellen.“
Die Tochter kommt mit
Allmählich taucht die Abendsonne die kleine Stadt in ein warmes Licht. Gerne möchte ich mir noch den Gedenkort oberhalb von Kalavryta anschauen. Ich stelle es meinen Kindern frei, mitzukommen oder ins Hotel zu gehen. Meine zwölfjährige Tochter möchte unbedingt mit zum Gedenkort. Sie weiß, dass die Nazis schreckliche Verbrechen begangen haben: Sie kennt das Schicksal der Juden und die Lebensgeschichte von Anne Frank. In Warschau erfuhr sie von der Zerstörung der Stadt durch deutsche Soldaten. Für sie passt es also ins Bild, dass die Nazis auch in Kalavryta gemordet haben. Gab es hier Widerstand gegen die deutschen Besatzer, so wie in Warschau?
Tragödie im Dezember 1943
Ich erzähle von den Partisanen in den Bergen. Sie hatten 80 deutsche Soldaten als Geiseln genommen, wollten sie gegen gefangene Partisanen austauschen. Doch als die Wehrmacht mit einer großen Einheit anrückte, wurden die Geiseln erschossen. „Achtzig Gefangene wurden von den Partisanen erschossen“, wiederholt meine Tochter. Man merkt ihr an, dass sie das nicht gut findet. „Aber was dann passierte, ist eben auch nicht zu rechtfertigen“, ergänze ich. Am 13. Dezember 1943 beordern deutsche Soldaten alle Einwohner Kalavrytas zur Schule. Sie haben den Befehl, die Stadt dem „Erdboden gleichzumachen“. Während Frauen und Mädchen in der Schule eingeschlossen werden, führen Soldaten die männlichen Einwohner ab dem 12. Lebensjahr zum Kappi-Hügel. Er liegt oberhalb der Stadt. Mit Hilfe von Maschinengewehren ermorden sie hier über 500 Menschen.
Ein Gedenkort für die Opfer
Wir erreichen den Gedenkort, den Kappi-Hügel. Beschaulich liegt Kalavryta zu unseren Füßen. Im Westen geht allmählich die Sonne hinter den schroff aufragenden Bergen unter. Auf Betonwänden lesen wir still die Namen und das Alter der Ermordeten. Unsere Gedanken sind nun bei dem 14-jährigen K. Alexopoulos. Was waren seine Wünsche und Träume? Und wie sah wohl der 16-jährige A. Sotiropoulos aus. Er muss sicherlich große Angst gehabt haben, als er die Maschinengewehre sah. In die Trauer mischt sich schleichend die Wut. Wie ist es nur möglich, dass Menschen andere Menschen umbringen? Wir lesen die großen weißen Schriftzüge Frieden und Nein zu Kriegen. Und sind plötzlich wieder in der Gegenwart. „Wenn man doch weiß, wie schrecklich Kriege sind, warum überfällt dann Putin die Ukraine?!“ Meine Tochter ist aufgebracht. Ich bin erst einmal sprachlos. Suche eine Antwort. Unerwartet läuft uns in diesem Moment ein kleiner schwarzer Straßenhund über den Weg. Prompt zieht er unsere Aufmerksamkeit auf sich. Der hübsche Vierbeiner ist eine willkommene Ablenkung. „Ich glaube, es geht ihm hier in Kalavryta gut“, meint meine Tochter. Langsam gehen wir wieder zurück ins Tal. In der Nähe läuten die Glocken von Ziegen oder Schafen. Es ist eine friedliche Atmosphäre, an einem Ort, an dem Schreckliches geschah.
Text und Fotos von Alexandros Jossifidis
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 844 am 12. Oktober 2022.