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Erkundungen in der facettenreichen Region Makedonien

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Das malerische Küstendorf Afytos auf der Chalkidiki (Foto: dimos afytos) Das malerische Küstendorf Afytos auf der Chalkidiki (Foto: dimos afytos)

„In diesem Sommer erwartet Griechenland mehr Touristen als vor der Corona-Zeit“, bemerkt meine Schwester, als wir den einsamen Küstenwanderweg im Westen der Kassandra-Halbinsel entlangspazieren. Die Frühlingssonne taucht die arkadisch anmutende Hügellandschaft mit ihren Pinienhainen in ein warmes Licht.

Wir stehen auf einer sandfarbenen Klippe. In der Ferne zeichnet sich die schneebedeckte Silhouette des Olymps ab. Und noch etwas zeichnet sich ab. Diesmal direkt unter uns, im türkisfarbenen Meer: „Ein Hai, ein Hai! Da schwimmt ein Hai!“, ruft mein Sohn ganz aufgeregt. Das Wasser ist klar und die Schwimmbewegungen sind eindeutig. Von der Größe eines ausgewachsenen Delfins zieht der majestätische Fisch ungestört seine Runden, bevor er im dunklen Blau tieferer Meeresregionen verschwindet. Bei aller Furcht vor Haien, es ist ein friedliches Bild, das uns noch lange in Erinnerung bleiben wird.

Nach diesem Erlebnis stärken wir uns erst einmal im nahegelegenen Afytos. Das hübsche Dorf ist einer der ältesten Orte der Chalkidiki. Forschungen ergaben eine 5.000-jährige Besiedlungsgeschichte. In der Antike soll die idyllisch oberhalb eines Steilhangs gelegene Gemeinde sogar eine eigene Währung besessen haben. Unser Blick schweift über das Meer zur Sithonia-Halbinsel. Wir entschließen uns, mehr von Makedonien zu erkunden. Allerdings soll unser Ziel kein typischer Touristenort sein. Und so fällt unsere Wahl auf die altehrwürdige Pelzhändlerstadt Kastoria sowie die nördlich davon gelegenen Prespa-Seen.

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Blick zwischen schmucken Häuschen hindurch zum See von Kastoria.

Pelze und vergangener Reichtum

Während wir an der Ägäis-Küste zumindest einen kurzen Sprung ins kühle Meer wagten, ereilt uns in den westmakedonischen Bergen überraschend der Winter. Zwischen Florina und Kastoria kurvt unser Mietwagen durch eine zuckerweiße Schneelandschaft. Zwar liegt in Kastoria selbst kein Schnee. Dennoch ist es in der Stadt an diesem Apriltag bitterkalt. Das Thermometer zeigt fünf Grad. Insofern wirken die großen Werbeplakate mit Frauen in Pelzmänteln sehr passend. Der Pelzhandel ist in der Stadt seit dem Mittelalter belegt, wobei im 14. Jahrhundert sogar der Kaiserhof im fernen Konstantinopel mit Pelzen beliefert wurde. Aber auch zu den deutschen Messestädten Leipzig und Frankfurt unterhielt die geschäftige Kleinstadt an den Ufern des Orestida-Sees lange Zeit enge Wirtschaftsbeziehungen. Und so verwundert es nicht, dass in der Frankfurter Niddastraße, einem Zentrum des Pelzhandels, in den 1980er Jahren Griechisch eine häufig zu hörende Sprache war. Schätzungen gehen von zirka 10.000 Menschen aus der Region Kastoria-Siatista aus, die damals im Rhein-Main-Gebiet eine zweite Heimat fanden.
Doch mittlerweile wird das Tragen von Pelzen in Deutschland kritisch gesehen. Kastorias bedeutender Wirtschaftszweig setzt entsprechend auf eine osteuropäische Kundschaft. Hinweistafeln mit kyrillischen Buchstaben locken potenzielle Kundinnen und Kunden am Stadtrand in schicke Outlets. Diese kontrastieren die stattlichen Herrenhäuser der Innenstadt, welche zumeist aus dem 19. und 20. Jahrhundert stammen. Hier wird noch immer der einstige Reichtum Kastorias greifbar. Die Stadt bildete ein urbanes Zentrum in einer ländlich geprägten Region. Griechen, Bulgaren, sephardische Juden und Muslime lebten in enger Nachbarschaft. Wir erfahren, dass die Muslime vor 100 Jahren im Rahmen des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches in das zentralanatolische Yozgat emigrieren mussten. Es ist die türkische Stadt, aus der meine griechisch-orthodoxen Vorfahren zur gleichen Zeit nach Makedonien flüchteten. Die Juden der Stadt fielen wiederum der deutschen Besatzungs- und Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkrieges zum Opfer. Und die Bulgaren? Fährt man in das Umland von Kastoria, dann kann man noch heute ein slawisches Idiom auf den Straßen hören – so zum Beispiel in den Dörfern rund um die beiden Prespa-Seen.

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Der Kleine Prespa-See im Dreiländereck mit Albanien und Nordmazedonien.

Streit um Namen und Identität

Diese Dörfer liegen aus griechischer Perspektive abgelegen im Dreiländer-Eck Griechenland, Albanien und Nordmazedonien. Historisch betrachtet waren sie das Zentrum des bedeutenden Ersten Bulgarischen Reiches, welches im 11. Jahrhundert im Kampf gegen Byzanz unterging. Wandert man heute über eine wackelige Pontonbrücke im Kleinen Prespa-See zum beschaulichen Inselchen Agios Achillios, dann ist nur schwer vorstellbar, dass hier die Residenz und Grablege des bulgarischen Zaren Samuel gestanden haben soll. Bei unserem Besuch auf dem etwas verschlafen wirkenden Eiland ließ sich lediglich ein einsamer Pelikan kurz blicken.
Etwas mehr Geschäftigkeit finden wir schließlich im gemütlichen Dorf Psarades. Es liegt an einer fjordartigen Bucht am Großen Prespa-See und schrieb im Jahr 2018 internationale Geschichte. Damals trafen sich hier die Regierungschefs aus Athen und Skopje, um den langwierigen Namensstreit zu beenden. Seither heißt die umständlich bezeichnete ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien schlicht Nordmazedonien. Der Ort der Vertragsunterzeichnung war gut gewählt worden, denn die Einwohnerschaft von Psarades besteht zuvorderst aus slawophonen Makedoniern, auch wenn wir während unseres kurzen Aufenthaltes tatsächlich nur Griechisch hörten. In der Vergangenheit waren die Menschen der Region von Politikern, Lehrern, Revolutionären und Kirchenleuten immer wieder aufgefordert worden, sich zu einer griechischen, bulgarischen, serbischen und zuletzt national-mazedonischen Identität zu bekennen. Dies führte in einigen Fällen dazu, dass sich selbst Geschwister unterschiedlichen nationalen Identitäten zugehörig fühlten. Dass Grenzen Menschen trennen und Landschaften politisch zerschneiden, wird nicht nur an den beiden Prespa-Seen deutlich.

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Ouranoupoli − der Zugangsort zur Mönchsrepublik des Athos.

Glaube an Gott und ewiges Leben

Wir sind wieder zurück auf der Chalkidiki. Die staubige Piste endet abrupt an einer Mauer. Unsere kleine Reisegruppe hat das Ende des weltlichen Griechenlands erreicht. Die spirituelle Welt beginnt jenseits der Absperrung. Hunde begrüßen uns bellend. Und ein Schild warnt eindringlich, dass ein Überwinden der Mauer unter Strafe steht. Frauen und Mädchen wird der Grenzübertritt ganz allgemein verwehrt. Willkommen an der Grenze zur autonomen Mönchsrepublik Athos, in der christlich-orthodoxe Mönchsgemeinschaften seit dem 9. Jahrhundert nachweisbar sind. Eine eigentümliche Atmosphäre umgibt diesen Ort unweit des Dorfes Ouranoupolis. Die wuchtige Ruine des einstmaligen Klosters Zygou bestimmt die Szenerie. Da das Kloster von katholischen Kreuzrittern im Mittelalter zu einer gewaltigen Befestigungsanlage ausgebaut worden war, ist die Anlage auch als Frankenburg bekannt. Der magische Ort zwischen blauem Meer und grünen Berghängen hat in den letzten Monaten einen traurigen Wandel vollzogen. Gerümpel liegt herum und aufgestellte Kassenhäuschen lassen vermuten, dass es mit der Ruhe bald ein Ende haben wird. Dennoch genießen wir das Rauschen der Brandung, während die wärmende Abendsonne die Landschaft golden leuchten lässt.
Dagegen ist es bereits finstere Nacht, als wir am letzten Tag unserer kleinen Makedonien-Rundfahrt vor der hellerleuchteten Agia Sofia in Thessaloniki stehen. Die altehrwürdige Kirche aus dem 8. Jahrhundert ist Schauplatz einer großen Karfreitagsprozession. Ein griechischer Fernsehsender berichtet vom Geschehen. Menschen zünden Kerzen an. Die Stimmung ist alles andere als gedrückt. Nur bei uns kommt leichte Melancholie auf. Wir verlassen schon bald eine sehr facettenreiche Region. Sie ist auch im launischen April eine Reise wert.

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Die Agia-Sofia-Kirche in Thessaloniki.

Text und Fotos: Alexander Jossifidis

 Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 823 am 10. Mai 2022.

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