Die Stadt Kavala liegt an der Grenze zu Thrakien, etwa 180 Kilometer östlich von Thessaloniki, und ist mit ihrem grandiosen Amphitheater-Hafen und ihrem Charme einen Besuch wert.
Das Wahrzeichen der orientalischsten Stadt Griechenlands ist sein grandioser Amphitheater-Hafen mit den halbkreisförmig ansteigenden champagnerweiß leuchtenden Villenkomplexen und neoklassizistischen Häuschen. Täglich verkehren hier die Autofähren zur nahen Ägäis-Insel Thassos, die sich seit jeher großer Beliebtheit speziell bei deutschen Urlaubern wie auch bei Mönchsrobben erfreut. Von Ostern bis in den Herbst hinein steuern die Kreuzfahrtriesen im Levanteraum die Bucht von Kavala an und sommerlich gekleidete Passagiere aus Kontinentaleuropa, China, Russland und den USA strömen dann in das lebendige 73.000-Einwohner-Städtchen und bestücken ihre digitalen Speicherkarten rasch mit flüchtigen Impressionen, denn bald ruft sie ein dumpfes Hupen zurück in den Schiffsbauch. Anders die vielen türkischen Tagestouristen, die mit ihren Autos angereist sind: In aller Seelenruhe begehen sie den alten Markt beim zentralen Eleftherias-Platz, wo es Berge von Obst, Gemüse, Nüssen und Kräutern gibt, Blütenhonig, regionalen Frischkäse, Halva und Baklava. Ein schnauzbärtiger Bauer im Zorbas-Outfit bindet sein Muli an ein windschiefes Stoppschild, Losverkäufer sermonieren, ungerührt schlachten Metzger ihre Lämmer, Ouzeria-Wirte polieren ihre Marmorbecken, ein Fischer hängt seine Kraken dekorativ auf die Schnur und aus den Boxen im Geäst einer uralten Platane scheppert anatolischer Rembetiko.
Buntbemalte Kaikis fahren aufs Meer hinaus
Im zweiten Glied hinter der neuen Hafenpromenade dominiert das traditionelle Handwerk, Kupferklopfer, Korbflechter und Ikonenmaler. Gegenüber stehen herrlich kitschige Schmuckgeschäfte, absurde 50er-Jahre Mode-Boutiquen neben einem etwas deplatzierten Prada-Tempel, kuriose Antiquitätenshops und sehr analoge Reisebüros. Die vielen Studenten aus ganz Griechenland sorgen für ein flirrendes Flair in den verwinkelten Gässchen der Panagia-Altstadt, in deren Kneipen und Clubs trotz oder gerade wegen der Krise bis zum Morgengrauen gesungen und getanzt wird. Unterhalb des gut 60 Meter hohen türkischen Viadukts flüstern sich junge Pärchen ihre frischen Geheimnisse in die Ohren. Andere flanieren hinüber zur Zitadelle mit ihren Olivenhainen und Zitronengärten. Sobald der Hafen rein ist, fahren die buntbemalten Kaikis aufs Meer hinaus, und Dieseltuckern, Männerstimmen und Möwengeschrei vermischen sich in der dunstigen Ferne zu einer maritimen Sinfonie. Ältere Semester werden am anderen Ende des Hafenkais eventuell von einem Aha-Erlebnis ereilt – vor der Kulisse des schicken Yachthafens wurde, vor genau 54 Jahren, der Filmklassiker „Topkapi“ mit Melina Mercouri, Peter Ustinow und Maximilian Schell gedreht.
Prunkvolle Patriziervillen in osmanischem Barock
So wie die Aura von Kavala von Orient und Okzident geprägt ist, so vermischen sich hier auch ständig die Zeitschienen. Hinter der betriebsamen Moderne herrscht eine spürbare Melancholie. Sie könnte mit dem Verblühen der großen Tabakindustrie zu tun haben, die Kavala bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts mit Wohlstand, Hochkultur und Belle-Epoque-Glanz versah. Die großflächigen Warenlager und Speicherhallen im gotischen Industrielook erinnern an ruhmreiche Tage. Berge von Orienttabaken wurden in ihnen gelagert, verarbeitet und weltweit verschifft. Die oft jüdischen oder armenischen Händler haben Kavala prunkvolle Patriziervillen in einem seltsamen eskapistischen Stilmix aus osmanischem Barock, Rokoko und Jugendstil hinterlassen – die Musikschule und das Rathaus bezeugen dies noch heute. Im Tabakmuseum, dem einzigen seiner Art in Europa, kann man Aufstieg und Fall jener Epoche betrachten: Stahlmaschinen der Manufaktur, folkloristische Kostüme, Schwarz-Weiß-Fotos von der Ernte in glühender Hitze, vergilbte Plakate, die an streikfreudige Gewerkschaften erinnern und unzählige Zigarettenschachteln, die so verführend im Design sind, dass man am liebsten wieder mit dem Rauchen beginnen möchte.
Altes Viadukt
Auf den Spuren des Apostels Paulus und der Lydia
Es gehört zu den religiös-kulturellen Besonderheiten Thrakiens, dass die türkischen Einflüsse sich ausgerechnet in dieser orthodoxen Bastion erhalten. Auf dem Ruinenareal des 20 Kilometer außerhalb liegenden antiken Philippi – benannt nach dem Vater von Alexander dem Großen – kann man heute nicht nur Thermen und Tempel, ein großes Theater, wuchtige Stadtmauern, die Reste einer Agora sowie Schemen von Basiliken und Zisternen besichtigen. Am Ende der Tour nämlich weist der Guide auf eine kleine Steinzelle hin, die wie ein kariöser Riesenzahn in der Trümmer-Macchia steht. In dieser saß, 49 n. Chr., Apostel Paulus mal wieder bei Wasser und Brot, also ganz zu Beginn seiner messianischen One-Man-Show. Von den Römern als dipolar gestörter Fanatiker empfunden, verfasste er rasch jene Philipperbriefe, die bis heute bleischwer im Neuen Testament liegen. Kurz nach seiner Entlassung gründete er die erste christliche Mission in Europa und nahm bei einer Dame namens Lydia kurz danach die erste christliche Taufe auf unserem Kontinent vor. Weil dann auch noch der Evangelist Lukas hier auftauchte, gilt Kavala bei vielen Griechen als eine wahre christliche Hochburg.
Das Paulus-Denkmal in Philippi außerhalb von Kavala
Erhebende Mischung aus Stil, Geist und Würde
Der Begriff „Imaret“ bedeutet im Arabischen Armenküche, also eine Einrichtung, die im Griechenland dieser Tage leider wieder zum Alltag gehört. Das Imaret von Kavala ist ein Hotel, von dem viele Globetrotter sagen, es sei das schönste des Landes, ein paar andere halten es sogar für die erstaunlichste Luxusherberge Europas. Dieser Palast aus 1001-Nacht wurde im Jahre 1817 von einem Bürger der – damals natürlich – türkischen Stadt, Muhammad Ali Pascha, Tabakmogul, Philosoph und im Nebenberuf Vizekönig von Ägypten, erbaut. Er diente als Elite-Koranschule mit vielen Zimmern, als Pilgeroase, als Moschee, Bibliothek und eben auch als offene Suppenküche für die freitägliche Speisung. Weitere Details zu der bemerkenswerten Person von Ali Pascha lassen sich in dem nahegelegenen Museum in Erfahrung bringen. Die endlose Geschichte der griechischen Befreiung, die Weltenkriege und Balkanwirren begünstigten den Verfall des 3500 Quadratmeter großen sultanischen Lustgartens. Im Jahre 2000 dann nahm sich Anna Missirian, eine wohlhabende Dame der Stadt, der maroden Immobilie an, setzte Himmel und Hölle in Bewegung und restaurierte dank vieler Euromillionen aus ihrem Privatbesitz, aus Thessaloniki, Athen, Brüssel und Kairo das heutige Luxushotel detailgetreu im orientalischen Stil. Vor zehn Jahren wurde es eröffnet. Der mit wellenförmigen Kuppeln garnierte Komplex aus Marmor, Naturstein und Edelholz beherbergt 26 Suiten, drei Innenhöfe mit antiken Säulen, Arkadengängen und plätschernden Brunnen, das wohl einzige in Betrieb befindliche türkische Hamam-Bad in Griechenland, einen nach Orangenblüten, Rosen und Lavendel duftenden Garten und jede Menge handgeknüpfte persische Teppiche, Samt und Seide, mächtige Lüster, opulente Ölschinken, Bronzeskulpturen und ein einzigartiges Buchantiquariat zum Thema des öst-westlichen Diwans. Wie zum Trotz gegen das Grauen der Tagesrealität in Zeiten von IS, Terror und Kulturhass gibt es hier regelmäßig Konferenzen zur interkulturellen Verständigung – 2015 auch mit Teilnahme der ägyptischen Sinfoniker aus Kairo. Das Haus am Hügel, hinter dem sich die bis in den Mai schneebedeckten Lekanis-Gipfel abzeichnen, lebt von einer erhebenden Mischung aus Stil, Geist, Würde, exklusiver Privatheit und entspricht so ganz dem Credo der Besitzerin: „Es gibt hier keine Gäste, denn dieses Haus macht uns alle zu Schülern.“
Die traumhafte und heute luxuriöse Herberge Imaret
Text von Wolf Reiser