Mit Hilfe der Bücher von US-Autor Rick Riordan und seiner Romanreihe über den Halbgott Percy Jackson werden auch Jugendliche wieder zu Fans altgriechischer Mythen. Doch auch ohne ihre Unterstützung können sich Kinder für Antikes begeistern oder zumindest Interessieren.
Epidaurus: Heilkunst und Tauchen
„Könnt Ihr mich hören?“ – Meine Tochter steht auf der Bühne des Theaters von Epidaurus. Ihr Bruder sitzt auf dem obersten Rang. Er hebt fragend die Schultern. „Von wegen, man kann das Flüstern der Schauspieler überall hören …“ Leichte Enttäuschung macht sich breit. Dennoch ist das zirka 13.000 Menschen fassende Bauwerk ein beeindruckender Veranstaltungsort. Es ist der architektonische Höhepunkt einer weitläufigen Anlage, die in der Antike der Heilkunst diente. Aus allen Ecken der griechischen und später auch römischen Welt strömten Menschen hierher. Im kleinen Museum steht eine Statue des Asklepios. Der Gott der Heilkunst hält einen Stab in der Hand, den wiederum eine Schlange umwindet. Meine acht und zwölf Jahre jungen Kinder kennen Stab und Schlange. Nur woher? Natürlich, als Zeichen in manchen Arztpraxen und Apotheken zuhause in Deutschland. Ansonsten fällt es ihnen ein wenig schwer, diesen Ort als eine Art Sanatorium mit angeschlossenem Unterhaltungsprogramm zu verstehen. Es ist heiß, und das Wasser in den Wasserflaschen mittlerweile lauwarm. Die Kinder würden sich gerne ausruhen und auf eine weitere Besichtigung verzichten.
Die Tochter bestaunt in Epidaurus das Halbrund für 13.000 Menschen.
Geheimnisvolle, versunkene Stadt
Meine Frau erzählt von einer Heilschlafhalle, die es hier einst gab, und weckt kurzzeitig das Interesse der beiden. „Die Menschen haben sich schlafen gelegt und am nächsten Morgen den Priestern von ihren Träumen erzählt.“ Die Priester arbeiteten damals fast so wie Psychologen heute, erstellten Beurteilungen und machten Therapievorschläge. „Interessant, aber können wir jetzt gehen?“ Es ist keine Frage, sondern vielmehr eine Aufforderung. Okay, wir Erwachsenen geben uns vorerst geschlagen. Doch wir haben noch eine Trumpfkarte in der Hand: Das Meerwasser des Saronischen Golfes ist erfrischend. Vor uns ankert eine imposante Segeljacht mit übergroßer maltesischer Fahne. Wir sind in das nahegelegene Alt-Epidaurus (Paläa Epidavros) gefahren und haben unsere Taucherbrillen aufgesetzt. Nun sind unsere Kinder begeistert von alten, menschenbehauenen Steinen, denn unter der kristallklaren Wasseroberfläche soll eine geheimnisvolle versunkene Stadt zu finden sein. Sind die Mauern, die uns erwarten, aus sagenumwobener mykenischer Zeit oder stammen sie doch eher von einem Gutshof aus Römischer Zeit? Für unsere Kinder spielt das keine Rolle. Sie gleiten durch das Wasser, begleitet von unterarmgroßen Fischen. Immer weiter schwimmen wir auf das offene Meer, doch fündig werden wir zunächst nicht. Erst als wir einen schwimmenden Familienvater mit seinen Kindern fragen, erfahren wir den ungefähren Standort der Unterwasserstadt. Sie liegt viel näher am Ufer als wir vermutet hatten. Und als wir die Steinquader erreichen, ist es ein großer Spaß und für die Kinder ein spannendes Abenteuer, auf Entdeckungsreise zu gehen. Neben Mauern, die wohl einstmals Kammern begrenzten, finden wir auch große, runde Behälter, deren Bestimmung uns verborgen bleibt. Wir sind fasziniert, fühlen uns frei und unbeschwert. Ein schöner Ausklang unseres ersten archäologischen Tages auf der Peloponnes.
Olympia: Kampf um den Olivenzweig
Im Gegensatz zu Epidaurus kann unser Nachwuchs mit Olympia schon ein wenig mehr anfangen. Immerhin werden Fußballspiele von Hertha BSC im Olympiastadion besucht. Am Hera-Tempel von Olympia zeigt eine kleine Fotogalerie die Entzündung der olympischen Flamme, die dann im Rahmen eines Fackellaufs zum Austragungsort der kommenden Spiele gebracht wird. Das Berliner Olympiastadion war 1936 der erste Zielort eines derartigen Laufs. Die Idee wurde von einem jüdischen Archäologen aus Berlin formuliert und von den Nazis schließlich propagandistisch in Szene gesetzt.
Beflügelndes Gefühl
„Hier gibt es natürlich auch ein Olympiastadion. Es ist sozusagen die Mutter aller Olympiastadien der Welt.“ Zunächst sind unsere Kinder irritiert, als wir durch einen schmalen Durchgang schreiten und nur Erdwälle sehen. Steinerne Sitzgelegenheiten wie im Theater von Epidaurus gab es hier für die meisten Zuschauer nicht. Wir setzen uns auf einen der Erdhügel und genießen die Abendsonne. Wie es wohl gewesen sein muss, ein antikes Wettrennen vor 45.000 Zuschauern? – „Ist das da unten die Startlinie?“ Mein Sohn zeigt auf eine steinerne Linie und blickt mich vielsagend an. Ich weiß sofort, was er will. „Na gut, dann wollen wir mal schauen, wer von uns beiden schneller ist. Aber ich ziehe mich nicht nackt aus, wie es damals die Athleten getan haben.“ Von den körperlichen Züchtigungen für einen Frühstart erzähle ich lieber nichts. „Auf die Plätze, fertig, los!“ Hatte ich gedacht, das Rennen über das staubige Feld wäre eine routinierte Übung, so werde ich während unseres kleinen Wettlaufs eines Besseren belehrt. Es verursacht jedenfalls ein beflügelndes Gefühl, in diesem über 2000 Jahre alten Stadion zu laufen. Ich schaue auf die leeren Zuschauerbereiche rechts und links und kann mir die einstmalige Atmosphäre sehr gut vorstellen. Das Rennen ist entschieden und mein Sohn weiß bereits, dass er als Sieger keine Goldmedaille erwarten darf. „Wo ist jetzt mein Kranz aus Zweigen eines Olivenbaums?“, fragt er grinsend. „Dir stünde sogar noch ein Palmblatt und ein Band zu“, ergänze ich und schaue gespielt traurig zu Boden. Für den Zweitplatzierten gab es nämlich nichts. Nicht einmal einen Trostpreis.
Der Tordurchgang zum Stadion in Olympia
Religiöser Hintergrund
Als wir das Stadion verlassen, fallen uns besonders mächtige Säulentrommeln auf. Wir stehen vor den Fragmenten des monumentalen Zeus-Tempels. Hier befand sich ab dem 5. vorchristlichen Jahrhundert eines der sieben Weltwunder der Antike: eine kolossale Zeus-Statue aus Gold und Elfenbein. Sie soll 13 Meter hoch gewesen sein und somit um ein Vielfaches größer als die Zeus-Playmobil-Figur meines Sohnes. Bei allem sportlichen Ehrgeiz: Die Olympischen Spiele hatten immer auch einen religiösen Hintergrund und waren insbesondere Zeus geweiht. Was aus der Statue geworden ist, kann die Altertumsforschung bis heute nicht zweifelsfrei rekonstruieren. Wahrscheinlich wurde sie 800 Jahre nach ihrer Fertigstellung stark ramponiert im christlichen Konstantinopel zerlegt.
Delphi: Adler und Pythia
Nun haben wir genug antikes Hellas gesehen. „Ich will noch nach Delphi“, sagt plötzlich meine Tochter, als wir zurück auf dem Campingplatz sind. Ich glaube, mich verhört zu haben. Doch sie meint es ernst. Mit Hilfe der Bücher von Rick Riordan ist sie mittlerweile unsere Expertin bezüglich der griechischen Götterwelt und Apollon einer ihrer Favoriten. Und so legen wir auf unserem Weg nach Nordgriechenland einen Stopp an der bedeutendsten Orakelstätte der Antike ein. Bereits die schroffe Gebirgslandschaft des Parnass ist beeindruckend. Hier befand sich nach antiker Auffassung der Mittelpunkt der Welt. „Zeus ließ zwei mächtige Adler fliegen. Sie starteten von den Enden der Welt und trafen sich in Delphi“, weiß meine Tochter zu berichten. Trotzdem war das Heiligtum nicht Zeus, sondern Apollon geweiht. Glaubt man den alten Mythen, dann hatte dieser Gott in Delphi einen weissagenden Drachen namens Python besiegt, weshalb die Fähigkeit der Weissagung auf Apollon übergegangen sei. Mein Sohn ist begeistert von der Erzählung. Nach einem schweißtreibenden Aufstieg erreichen wir den Apollon-Tempel. Hier stießen also die seltsamen Dämpfe aus der Erde, mit deren Hilfe sich eine Pythia genannte Frau in Trance versetzte und weissagte. „Und was sagte sie?“, möchte mein Sohn wissen. Seine Schwester erzählt: „Ein König fragte das Orakel, was passiere, wenn er das Persische Reich angreifen würde? Das Orakel antwortete, ein großes Reich würde dann untergehen. Er freute sich, griff an und verlor. Sein Reich war untergegangen.“ Unser Nachwuchs muss schmunzeln. Sehr gerne hätten die beiden das Orakel mit Hilfe einer Zeitmaschine besucht und befragt. Doch auch ohne Orakelspruch ist uns klar: In Zukunft werden wir weiterhin antike Orte erforschen – gemeinsam mit unseren Kindern.
Der Apollon-Tempel in Delphi
Text und Fotos: Alexandros Jossifidis
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 846 am 26. Oktober 2022.