In Sfinari ist die kretische Welt noch in Ordnung. Oder jedenfalls so, wie Nostalgiker die Insel ins Herz geschlossen haben. Einige Dutzend Kilometer weiter aber haben sich zwei der schönsten Küstenstriche Kretas in touristische Höllen verwandelt: Der Balos und der Elafonissi Beach. Dazwischen geht der Falassarna Beach seinen eigenen Weg.
Wir sind im äußersten Westen von Griechenlands größter Insel unterwegs. Sind von Kissamos, Kretas westlichster Stadt, ein paar Kilometer sanft bergan gefahren und dann oben in Platanos den Wegweisern nach Falassarna gefolgt. Jetzt breitet sich 200 Meter unter uns eine langgestreckte Küstenebene aus. Eingerahmt von silbrig-grünen Olivenhainen dominieren weiß-graue Gewächshäuser das Bild. Nur vereinzelt sind dazwischen Häuser auszumachen, ein dorfähnlicher Mittelpunkt ist nirgends zu erspähen. Wir wohnen im größten und ältesten Hotel der Gegend, im „Falassarna Bay“. Wirt Thanassis erzählt: „Mein Vater hatte in den 1970er Jahren eins der beiden Kafenia hier. Er sah, dass Fremde zum Baden an den völlig naturbelassenen Sandstränden kamen, und dachte sich, einige von ihnen würden bestimmt gern bleiben, wenn es denn Unterkünfte gäbe. Also baute er die ersten Zimmer.“ Dass jetzt auch große Hotelanlagen hier entstehen, fürchtet er nicht: „Der Landbesitz ist hier ziemlich zerstückelt. Kein Eigentümer will an Investoren verkaufen, man baut lieber Ferienhäuser oder ganz kleine Apartmentkomplexe und vermietet die. Und außerdem leben die meisten Bauern hier ganz gut von ihren Tomaten.“
Tomaten für die Schafe
Die wachsen in den vielen Gewächshäusern auf der Ebene zwischen November und Mai, also passenderweise dann, wenn keine Touristen da sind und ohnehin die Olivenernte ansteht. Im letzten Winter waren die Erlöse besonders gut. Da bekamen die Erzeuger vom Großhändler um die 1,70 Euro pro Kilo und damit bis zu 40 Prozent mehr als in den Vorjahren. Die Bauern liefern an zwei Zentrallager auf der Ebene, die die Ernte an regionale Zwischenhändler meistbietend verkaufen. Wenn die Tomaten abgeerntet sind, verfüttern die Bauern die vertrockneten Reste samt noch daran hängender Früchte an ihre Schafe und entsorgen zerfetzte Folien an Sammelstellen in freier Natur. Ab Ende Mai stehen die Gewächshäuser dann leer: Im Sommer lohnt sich der Anbau in ihnen nicht mehr, da dann die Billig-Freilandtomaten vom Peloponnes den Markt überschwemmen.
Vor allem Chanioten
Auf die Idee, mit Tomaten gefütterte Lämmer auf die Speisekarte zu setzen, ist in Falassarna noch kein Wirt gekommen. Gut essen kann man hier in den weit auseinander liegenden Tavernen trotzdem. Und meist sitzt man auch besonders idyllisch. Im sehr familiären „Golden Sunset“, wo Bücher zum Ausleihen auf den Fensterbänken stehen, sitzt man auf einer Terrasse unter Feigenbäumen, bei „Kapetan Nikolas“ am winzigen Hafen stehen die Tische unter Palmstrohschirmen, bohren sich die Stuhlbeine in den Sandstrand. Das „Galazia Thea“ ist der Hotspot zum Sonnenuntergang. Wer Glück hat, ergattert einen Tisch auf der schiffsbugähnlich auf eine niedrige Felszunge angelegten Terrasse und fährt mit etwas Phantasie dem feurig im Meer versinkenden Sonnenball mit einem Glas Raki in der Hand entgegen. Die Gäste in den Tavernen sind zumeist Griechen. Besonders gern kommen die Städter aus Chania am Wochenende hierher. Dann sind auch die mittlerweile sehr vielen Liegestühle am Long Beach belegt, ist freitags und samstags in der ganzen Ebene manchmal gar DJ-Gedröhne zu hören. An den übrigen Wochentagen ist an den Stränden – außer im August – noch recht wenig los. Reiseveranstalter schicken noch keine Gäste hierher, zumal ja auch All-inclusive-Anlagen fehlen.
Falassarna ist besonders bei Gästen aus Chania (siehe Foto/GZjh) beliebt.
Antikes Falassarna
Nur wenige der Badegäste fahren vom Ende der Asphaltstraße und der letzten Taverne noch 1.500 Meter weiter gen Norden auf einem Feldweg bis zu den zwar eingezäunten, aber eintrittsfreien Ausgrabungen des antiken Falassarna. Dessen Bewohner lebten von etwa 350 v. Chr. bis 67 n. Chr. vor allem von der Seeräuberei. Weil sich hier die Küste seit der Zeitenwende um etwa sechs Meter gehoben hat, fanden die Archäologen hier ein fast intaktes antikes Hafenbecken vor. Sogar die steinernen Anbindelöcher für die Boote blieben teilweise erhalten. Zu erkennen sind auch noch die beiden Kanäle, über die der Hafen mit dem offenen Meer verbunden war. Eine farbige Rekonstruktionszeichnung am Eingang zeigt anschaulich die ganze antike Anlage. Darauf sind auch die doppelten Stadtmauern zu sehen, die sich durch die Ebene und über einen Felsrücken zogen. 550 Meter von ihnen sind recht gut erhalten.
Antikes Falassarna
Albtraum Balos
Vor den Ruinen von Alt-Falassarna tummeln sich nicht nur Stand-Up-Paddelboote, Kanus, Jet-Ski-Fahrer und PS-starke Motorboote auf der Karpathischen See. Ab und zu fährt auch ein kleines Motorschiff vorbei, das bis zu 50 Passagiere von Falassarnas kleinem Hafen zum 50 Minuten entfernten Balos Beach nahe der Nordwestspitze Kretas bringt. Der gilt als einer der optisch schönsten Strände ganz Griechenlands, steht auf jeder Bucket List in den sozialen Medien ganz obenan. Werbefotografen nehmen ihn gern vom Berghang aus auf oder gar gleich mit der Drohne. Da gewinnt man den Eindruck, fast weißer Sand säume eine flache Lagune mit milchig-türkisem Wasser vor einem Wechselspiel aus nacktem Fels und tiefblauem Meer. Nur ein einziges, winziges Häuschen ist zu sehen, und wenn der Fotograf frühmorgens oder spätnachmittags unterwegs war, liegen zwar ein paar Segelyachten in der Bucht vor Anker, aber am Ufer ist kaum ein Mensch zu erblicken. Die Realität sieht anders aus. Die wenigsten Besucher des Balos Beach steuern ihn mit einem kleinen Boot von Falassarna aus an. Stattdessen drängen sie sich auf den großen Ausflugsdampfern, die täglich mehrmals vom Städtchen Kissamos aus dorthin fahren. Lange Buskarawanen wälzen sich im Sommer jeden Morgen über die Hauptstraße des beschaulichen Landstädtchen dem Bootsausflug entgegen. Zu ihnen gesellen sich Hunderte Mietwagen, die zum Balos Beach wollen. Die mautpflichtige Piste dorthin, die im schönen Dorf Kalaviani beginnt und an einem Großparkplatz 30 Gehminuten oberhalb des Strandes endet, ist so schlecht, dass ihre Nutzung in den meisten Mietverträgen für die Autos ausführlich untersagt wird. Das kümmert viele Touristen allerdings wenig. Den geländegängigen Shuttle-Bus, der vom Hauptplatz von Kissamos mehrmals täglich zum Parkplatz verkehrt, nutzen nur wenige Urlauber.
Balos
Winziger Kiosk für Tausende
Am Balos Beach treffen sich dann alle Ausflügler wieder, wie auch immer sie hierhergekommen sind. An manchen Tagen sind es über 4.000 täglich. Toiletten gibt es für sie nicht. Ein winziger, der Gemeinde gehörender Kiosk verkauft Eis und Getränke – und an einigen Strandabschnitten werden Sonnenschirme samt zwei Liegestühlen für 15 Euro (Stand: Juni 2022) zugunsten der Gemeinde vermietet. Wer mit den großen Ausflugsdampfern aus Kissamos gekommen ist, kann heiße Snacks aus der Mikrowelle an Bord erwerben und zudem ein Foto des Bordfotografen, das beweist, dass man hier war.
Der Strand selbst, der samt flacher Lagune von oben oder von See aus so verlockend aussah, entpuppt sich als halsbrecherisch und keineswegs sauber. Er wird an Land und im Wasser größtenteils von zahllosen Felsschollen durchzogen, die das Waten schwierig machen. Badeschuhe sind unbedingt zu empfehlen. Und auch in der flachen Lagune zu lustwandeln, macht wenig Spaß: Da geht man völlig schattenlos durch meist nur knöchel- bis knietiefes Wasser. Zudem haben die häufigen Westwinde viel Teerschlamm angespült, verursacht durch Öltanker, die ihre Tanks verbotenerweise auf offener See spülen. Die meisten Touristen, die einmal am Balos Beach waren, sind sich einig: Eigentlich hätte es gereicht, ihn aus der Ferne zu sehen, ob von oben oder vom Boot aus.
Weiter nach Sfinari
Wir schließen uns dieser Meinung an. Und sind froh, mit unserem kleinen Bötchen ohne die an Bord der großen Ausflugsdampfer übliche Musikbeschallung ins beschauliche Falassarna zurückzukehren. Viel länger bleiben wollen wir hier allerdings nicht, denn uns fehlt ein richtiges Dorf. Darum fahren wir an der kretischen Westküste entlang weiter gen Süden und finden in Sfinari, was wir suchen.
Text: Klaus Bötig
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 847 am 2. November 2022.