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Im Herbst und Winter erklingt abends die Lyra

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Unser Foto (© Griechenland Zeitung / Klaus Bötig): Am venezianischen Hafen - die Hafenfestung Koules. Unser Foto (© Griechenland Zeitung / Klaus Bötig): Am venezianischen Hafen - die Hafenfestung Koules.

Schnee fällt in Iraklio selten. Als Kulisse ist er im Winter aber bei halbwegs klarer Sicht ins Stadtbild integriert. Dann krönt er die Gipfelregionen des Psiloritis und der Lassithischen Berge. Sitz man bei 20 Grad in der Mittagssonne am Hafen, ist das ein tolles Bild. Aber die Sonne scheint keineswegs ständig. Heftige Wolkenbrüche gehören ebenfalls zum Winter. Weil es dazu oft auch stürmt, hilft kein Schirm mehr. Man muss sich unter Plastikfolien flüchten, die jetzt in vielen Geschäften statt Badeschuhen angeboten werden.

Am venezianischen Hafen

Aber der Regen hält selten stundenlang an. Auf Wolkenbrüche folgt oft schnell wieder Sonnenschein. Dann sitzt man am schönsten im großen, modernen Café am alten venezianischen Hafen, der heute nur noch von kleinen Fischerbooten und Sportbooten genutzt wird. Blickt man aufs Wasser, hat man die Reste der alten venezianischen Werfthallen hinter sich, in denen die Galeeren der Serenissima repariert und im Winter eingelagert wurden. Über den Hafen hinweg schaut man auf die venezianische Hafenfestung, heute Koules genannt. Ihre heutige Form erhielt sie im 16. Jahrhundert. Ihre Mauern sind bis zu 8,7 Meter dick; bestückt war sie mit 18 Kanonen im Untergeschoss und 25 weiteren auf den flachen Dächern. In riesigen Gewölben lagerten Unmengen von Munition; eine eigene Mühle und Bäckerei machte sie im Belagerungsfall für längere Zeit autark. Gleich an der Festung setzt die 1800 Meter lange Mole des neuen Hafens der Inselhauptstadt an, in der vor allem Autofähren festmachen. Im Sommerhalbjahr legen hier auch die Kreuzfahrtschiffe an, die im Winter ganz rar sind – ein großer Vorzug eines Winterurlaubs in der Stadt. Die Mole wird gern von Joggern genutzt, die hier quasi direkt am Meer entlang laufen und dabei fast immer schneebedeckte Berge in der Ferne sehen.

 

Städtebauliches Desaster

Anders als in der Stadt Rhodos, wo auch die mächtigen Seemauern vollständig erhalten blieben, wurden die Seemauern der alten kretischen Städte im 19./20. Jahrhundert vollständig niedergerissen. Darum lohnt sich auch in Iraklio ein Bummel über die moderne Uferpromenade kaum. Die Landmauern samt ihrer sieben mächtigen Bastionen sind zwar noch weitgehend erhalten, gehen aber wenig fotogen im Häusermeer unter. Insgesamt ist Iraklio im Gegensatz zu den Schwesterstädten Chania und Rethymno optisch wenig attraktiv. Eine echte Altstadt gibt es nicht. Deutsche Bomben im Zweiten Weltkrieg und die chaotische Bauwut der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts haben die Stadt zu einem Albtraum der nicht engagierten Städteplaner werden lassen. Auch der Flüchtlingsstrom kleinasiatischer Griechen in den 1920er Jahren trug zum architektonischen Wildwuchs bei. Stadtteilnamen wie Nea Halikarnassos weisen auf solche Flüchtlingssiedlungen hin. Dort in Nea Halikarnassos finden übrigens heute Flugzeug-Spotter ein tolles Café (Odos Irodotou 117): Sitzt man dort bei einem Kafedaki, sieht man startende Maschinen direkt neben dem Kirchturm in den Himmel steigen und kann sie gut fotografieren. Niemand stört sich an den Jets: Ihr Fluglärm gehört Tag und Nacht zur Geräuschkulisse der ganzen Stadt vom Hafen aus ostwärts.
Trotzdem ist Iraklio liebenswert. Innerhalb der Stadtmauern sind außer den Museen auch historische Bauten eingestreut, Kirchen und Brunnen vor allem. Und kretisches Volksleben lässt sich nirgends auf Kreta besser studieren als hier in zahllosen kleinen Geschäften, auf Plätzen und in Straßencafés, in Kafeterias und trendigen Cocktail Bars.

Zwei Kirchen, eine Loggia

Vom alten venezianischen Hafen führt die Odos 25is Avgostou leicht ansteigend als breite, vor allem von Reisebüros, Banken, Autovermietungen und Souvenirgeschäften gesäumte Fußgängerstraße ins Herz Iraklios. Sie wurde, wie jetzt immer mehr Straßen und Plätze in der Innenstadt, bereits Anfang unseres Jahrzehnts verkehrsberuhigt. Das hat der Stadt spürbar gut getan. An dieser Flaniermeile stehen die venezianische Loggia, die Francesco Morosini 1628 als Versammlungsort und Ballsaal für den venezianischen Adel der Insel errichten ließ, und zwei bedeutende Kirchen: Agios Titos und Agios Markos.
Die dreischiffige Basilika Agios Markos wurde 1239 von den Venezianern kurz nach ihrer Eroberung Kretas geweiht – natürlich als San Marco. Hier wurden ihre Inselherzöge fortan beigesetzt. Die Türken ließen nach ihrem Sieg über die Venezianer 1669 eine nach Mekka weisende Gebetsnische ein- und ein Minarett anbauen – und schon war aus dem christlichen Gotteshaus eine Moschee geworden. Heute dient das den orthodoxen Griechen stets fremd gebliebene Gebäude als Städtische Kunstgalerie mit Wechselausstellungen.
Für die orthodoxen Kreter ist Agios Titos hingegen ein wahres Gotteshaus. Sie birgt die Schädelreliquie des ersten kretischen Bischofs, den der Apostel Paulus höchstpersönlich im Jahr 51 in sein Amt einführte und an den er später auch den ins Neue Testament aufgenommenen Titus-Brief schrieb. Diese Schädelreliquie war den Venezianern so wichtig, dass sie sie bei ihrem Abzug aus Kreta 1669 mit in ihre Lagunenstadt nahmen. Erst 1966 kehrte sie mit viel Pomp nach Iraklio zurück. Hier steht sie nun pikanterweise in der Vorhalle in einer Gebetsnische, die erst die Türken schufen, als sie die Kirche in eine Moschee umwandelten.

Schoen Der Innenhof der venezianischen Loggia kb Parschau

Bougatsa am Brunnen

Die Flaniermeile 25is Avgostou endet am Wahrzeichen der Stadt, dem Morosini-Brunnen. Wer da einen Tag lang sitzt, weiß, wer in der Stadt ist. Fast jeder kommt hier vorbei. Die einen sind gekleidet, als müssten sie gleich auf den Catwalk. Andere sehen aus, als kämen sie gerade vom Ziegenmelken. Touristen sind jetzt im Winter vor allem Asiaten, denen keiner gesagt ist, wie kalt es auch im kretischen Winter werden kann. Einheimische und Griechenlandkenner setzen sich in eine der beiden Konditoreien am Platz, das „Kirkor“ oder das „Fillo-sofies“. Der Name des letzteren ist schon eine Anspielung auf die Spezialität beider Lokale: Die Strudelteigtaschen „bougatsa“, wahlweise mit einer Art Grießpudding oder mit Ziegenkäse gefüllt. Gleich gegenüber sind kleine Koteletts die Spezialität der Grillstuben – und dazwischen steht der millionenfach fotografierte Morosini-Brunnen aus dem Jahr 1628 mit seinen vier Löwenköpfen und acht dreiviertelkreisförmigen Ausbuchtungen. Mit diesem Geschenk verbesserte Gouverneur Morosini die Wasserversorgung der Stadt ganz erheblich.

Lecker Bougatsa am Morosini Brunnen kb Parschau

Shoppen ohne Ende

Am Platz mit dem Morosini-Brunnen und der benachbarten Straßenkreuzung nehmen die wichtigsten Einkaufsstraßen ihren Anfang. In der nach dem erfindungsreichen Dädalus, Erbauer des Labyrinths von Knossos und erstem Piloten der Menschheitsgeschichte, benannten Odos Dedalou reihen sich Souvenir- und Textilgeschäfte aneinander. Paraallel dazu verläuft die Straße der Gerechtigkeit, Odos Dikäossinis, mit zahlreichen Bekleidungsgeschäften und Handy-Shops. Zwischen beiden liegen die Überreste der byzantinischen Stadtmauer. Man sieht sie nur, wenn man einen der Läden auf der Nordseite der Dikäossinis betritt. Die haben nämlich nach hinten hinaus oft große Fenster und kleine Gärten, in denen das Personal in den Pausen an Tischen und auf Bänken direkt unterhalb der 1000 Jahre alten Wehrmauer entspannen kann.
An der Kreuzung beim Morosini-Brunnen beginnt auch die kurze, ehemalige Marktgasse Odos 1866. Echte Marktstände gibt es hier kaum noch, dafür jährlich mehr Shops für Touristen mit T-Shirts, Olivenholzschnitzereien und billigem Schmuck. Nur nahe dem Bembo-Brunnen, in den die Venezianer kopflose Statuen aus dem Städtchen Ierapetra an der Südküste integrierten, ist noch ein kleiner Fischmarkt zu finden. Den nutzt auch die dortige Markttaverne: Bestellt ein Gast frischen Fisch, ruft der Wirt dem Verkäufer am nächstgelegenen Fischstand die Bestellung zu und der liefert ganz frisch seine Ware portionsgerecht.

Ein Stuhl für jeden Irakliten

Am Morosini-Brunnen setzt auch die Odos Chandakos an, die bis zum Historischen Museum hinunter führt. Eine etwas Deutsch sprechende, gern auch von Urlaubern Aufträge annehmende Ikonenemalerin sitzt hier vormittags in ihrem Atelier und unterhält sich gern mit Besuchern. Ansonsten ist die autofreie Gasse mit Cafés und Bars gespickt, in denen es meist etwas ruhiger zugeht als in den großen Kafeterias und Bars an der nahen Platia Kallergon und der ebenfalls nahen Odos Korai. Da sitzt die Inseljugend schon mittags in Massen bei Kafé Frappé und Freddo Capuccino.
Streift man weiter durch die Innenstadt, meint man bald, für jeden der über 150.000 Stadtbewohner gäbe es hier einen Stuhl in Lokalen. In vielen erklingt im Herbst und Winter abends die Lyra. An Tavernen herrscht kein Mangel. Für linke Nostalgiker ist das „Tou Kayiambi“ in der Odos Monoftsiou ein Muss. „Wenn die Revolution in Deutschland 1919 gelungen wäre, wäre die Welt heute besser“, verkündet da Wirt Dimitris in fast perfektem Deutsch. Und serviert urkretisches Essen preiswert unter Fotos von Ernst Thälmann, Lenin, Che, Schauspielern und Malern.

Text und Fotos von Klaus Bötig

Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 703 am 27. November 2019.

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