Wer die Kahlheit der Berge von Kalymnos sieht, versteht gut, warum die Menschen hier sich dem Meer zuwandten, Fischer und Schwammtaucher wurden. Warum ausgerechnet das eher liebliche Leros Standort der größten Psychiatrischen Klinik ganz Griechenlands wurde, offenbart sich erst auf den zweiten Blick.
Kalymnos und Leros
Nach einer schon recht langen Lebensreise habe ich auf Kalymnos endlich den Friseur gefunden, nach dem ich immer suchte: Giorgio aus New York. „Waschen, Schneiden, Föhnen für 10 Euro”, das klingt nach günstigem Angebot. Giorgio empfängt mich. Der Haarwaschstuhl ist ein Massagesessel, während der Waschprozedur rollt die Massagerolle vom Nacken bis zum Steiß. Äußerst angenehm! Anfangs sprechen wir Griechisch, bald aber Englisch: Giorgios Familie lebt in der vierten Generation in Indiana. Sein Urgroßvater ging zum Eisenbahnbau hinüber, dann fanden seine Nachkommen Jobs in der Stahlindustrie. Die ging flächendeckend Pleite, die Familie eröffnete ein Friseurgeschäft. Giorgio siedelte nach New York über und arbeitete da als Barbier. Vor 26 Jahren kam er erstmals nach Kalymnos und blieb für immer. Hier verdient er zwar wenig, hat aber keinerlei Stress. Der Rentenversicherung wegen arbeitet er pro forma auch weiterhin in der amerikanischen Firma seiner Brüder. Hier auf Kalymnos hat er vier Mitarbeiterinnen. Die kommen, wenn es zu tun gibt – und haben während ihrer Periode grundsätzlich frei. Giorgio hält das für eine vorbildliche soziale Maßnahme. Auf das Schneiden folgt das Föhnen. Das dauert ungewöhnlich lange; denn wenn Giorgios spricht, stellt er den Föhn ab, damit ich ihn besser verstehe. Er hat viel zu erzählen. Ich höre geduldig zu, denn ich darf natürlich während der gesamten Prozedur rauchen! Nach 45 Minuten Behandlung habe ich soviel Vertrauen zu ihm gefasst, das ich mir von ihm erstmals in meinem Leben Gel in die Haare schmieren lasse.
Schnitzereien aus Olivenholz
Schräg gegenüber hat Anastasios im vergangenen Jahr einen ungewöhnlichen Laden eröffnet. Er winkt mich auf einen Kaffee hinein. Der junge Mann ist Tischler, war vor der Krise vor allem beim Innenausbau von Villen kreativ. In der Krise blieben die Aufträge aus. Er erwog, nach Australien auszuwandern. Doch dann kam er auf die Idee mit dem Laden. Hier verkauft er jetzt sehr schöne, von ihm selbst gefertigte traditionelle Truhen, Schaukelpferde und Kleinmöbel, dazu fremde Schnitzereien aus Olivenholz. Die Krise macht ihm weiterhin zu schaffen – aber er hat Geduld, Rückhalt in der Familie und genießt es, auf Kalymnos statt in Australien zu sein.
Über die breite Uferpromenade schlendere ich zu meinem Hotel zurück. Es ist früher Abend, die Cafés füllen sich, die ambulanten Händler werden aktiv. Auf einem zum Marktstand auf Rädern umgebauten Kinderwagen liegen Kunststoffschwämme für den Küchengebrauch aus – und das ausgerechnet hier, auf dem als Schwammtaucherinsel geltenden Kalymnos! Ein anderer Marketender trägt einen großen Korb am Arm, will die Menschen mit Nüssen versorgen. Luftballons für die Kinder sind das Angebot einer bunt gekleideten Frau – hier ist richtig was los. Einige sonst in Griechenland selten gewordene Dreiräder und zahlreiche Vespas fahren vorbei, auf jeder zweiten sitzen zwei Erwachsene und ein Kind, manchmal auch zwei. Auch Greise werden damit transportiert. Ich sehe, wie zwei auch schon ältere Männer einen Motorroller festhalten, auf den sie zuvor einen uralten Mann gehievt haben. Er rutscht jetzt mit hundert kleinen Rucken auf dem Sattel nach hinten. Dann setzt sich der etwas jüngere vor ihn und fährt mit ihm los.
Schwämme kann man auf Kalymnos immer noch hervorragend kaufen.
Hausgemachte Probleme
Verschnaufpause auf meinem Balkon mit Hafentotale. Zahllose Boote sind an den Kais vertäut. Ein paar Yachten, vor allem aber Fischerboote und -trawler. Hunderte von Familien hier leben noch vom Meer, holen auf langen Fangfahrten je nach Saison Schwert- und Thunfische heraus. Ihr Markt ist ganz Europa. Kalymnische Schwertfische sind auch in den Markthallen von Paris begehrt. Etwa ein Dutzend Boote werden noch für die traditionelle Schwammtaucherei genutzt, die die Insel einmal reich gemacht hat. Direkt unterhalb meines Balkons beansprucht die winzige Autofähre ihren Stammliegeplatz, die jeden Morgen zum nahen Inselzwerg Pserimos aufbricht, um hinüber zu bringen, was die etwa 60 dort lebenden Kalymnioten und ihre wenigen ausländischen Gäste benötigen. Autos transportiert sie allerdings nicht, denn die Bugklappe ist nicht lang genug, um sich auf den uralten Kai von Pserimos herabsenken zu lassen. Selbst die Passagiere müssen dort einen kleinen Sprung an Land machen. Perfekt für Fähren aller Art ist hingegen die lange Mole auf Kalymnos selbst. Der schnelle Katamaran, der alle Inseln zwischen Rhodos, Ikaria und Samos miteinander verbindet, legt hier meist mehrmals täglich an, die uralte „Nisos Kalymnos“ hat hier ihren Heimathafen, tuckert fast das ganze Jahr über viermal wöchentlich bis nach Samos hinüber und zweimal nach Astypalea. Dieser Fixstern am oft sturmumbrausten griechischen Fährhimmel gehört der Inselreederei, deren kleinere Boote Kalymnos auch mehrmals täglich mit dem flughafennahen Mastichari auf Kos und im Sommer zusätzlich mit Pserimos verbinden.
Schnellschiffe verbinden Kalymnos und Leros fast täglich mit Nachbarinseln.
Wegen Baufälligkeit geschlossen
Diese Fährmole ist am nächsten Morgen mein erstes Ziel. Da betreut ein weiterer Giorgios die Touristeninformation der Insel – konstant, effektiv und stets mit Sorgenfalten auf der Stirn. Was ist mit dem Archäologischen Museum los, das einige der wertvollsten Bronzestatuen Griechenlands birgt? Wegen Besuchermangels hat man ihm nur noch einen Wärter zugebilligt, darum ist das Museum nur an fünf Tagen in der Woche für jeweils sechs Stunden geöffnet. Warum kommt man ins Schwammtaucher-Museum überhaupt nicht mehr hinein? Weil das Gebäude einer Stiftung gehört, die auch das unterm gleichen Dach untergebrachte Volkskundliche Heimatmuseum betreibt. Mit dem hat man sich zerstritten, und so gibt es zur Geschichte des Kulturguts „Schwammtauchen und -verarbeitung“ kein wirkliches Museum mehr. Die Gemeinde hat kein Geld, für Ersatz zu sorgen. Und die Vouvalis-Villa, Prachtresidenz eines einstigen Schwammhändlers? Ist wie in den letzten Jahren schon wegen Baufälligkeit geschlossen. Doch es gibt auch eine positive Neuigkeit: Ein privates Museum am Stadtrand, in dem gezeigt wird, wie wohlhabende Kalymnier vor über 100 Jahren im russischen St. Petersburg lebten. Ob das Touristen anlocken kann? Naja, und museal werden hoffentlich auch die 16 Wohncontainer direkt vor Giorgios Büro wirken, in denen auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle 2015/16 Hunderte Asylsuchende untergebracht waren. Jetzt sind sie leergeräumt, doch das Geld für den Abtransport fehlt.
Italienische Bauten im orientalisierenden Stil.
Segensreicher Fels
Wieder einmal Inselerkundung. Vorbei an E-Werk und rauchender Inselmüllkippe führt mich die Küstenstraße an kahlem Fels und mehreren Fischzuchtanlagen hinüber ins Mandarinental von Vathy mit seinem fast norwegisch anmutenden, kurzen Fjord. An den Mauerresten einer antiken Siedlung vorüber geht es auf autofreier, bestens ausgebauter neuer Asphaltstraße zur Westküste, weiter auf einer Oleanderallee und dann wieder hinüber an die Ostküste zur einsamen Bucht von Palaionisos, die erst 2008 an eine von der EU finanzierte, überdimensionierte, aber Wählerstimmen bringende Asphaltstraße angebunden wurde. Bis dahin kam man nur über einen Feldweg per Moped, Jeep oder zu Fuß hin. Alles, was gebraucht wurde, kam per Boot. Mein Freund Nikos, Lehrer in der Inselhauptstadt, betrieb dort nachmittags und abends sowie die ganzen Sommerferien über die einzige Taverne und kümmerte sich dort auch um seine alte Mutter, die mit nur fünf anderen Menschen ganzjährig im Weiler zu Hause war. Es gab weder Strom noch fließend Wasser, und das erschien manchen als Paradies. Auch Nikos, der seine Taverne „Nikos Paradise“ nannte. Mit der Straße hat sich alles geändert. Zwei weitere Tavernen und eine Kantina haben direkt am Ufer aufgemacht, während Nikos’ Lokal etwa 250 Meter landeinwärts liegt. Segler und Touristen füllen jetzt die anderen Lokale, zu Nikos kommen nur noch alte Bekannte. Die Wirte untereinander grüßen sich nicht einmal, so hart ist die Konkurrenz. Nikos’ Frau Themelina bedauert das am meisten. Sie ist in einer Taverne in einem kleinen Westküstendorf aufgewachsen, hat da schon mit neun Jahren fleißig mitgeholfen. Dort war es damals anders: Die Wirte besuchten einander, tranken mal hier, mal da Kaffee. Und wenn einer viel zu tun hatte, kamen die anderen, um ihm zu helfen.
Fehlenden Zusammenhalt beklagen auch die Zimmervermieter an der Westküste zwischen dem Hauptinselstrand von Kantouni und Massouri. Diese Region hat sich zum Traumziel von Kletterern aus aller Welt gemausert. Wer in ihren nackten Felsen hängt, hat fast immer das Meer vor Augen – das macht die Destination so einzigartig. Auf die Rock Climber, die überwiegend im Herbst, Frühwinter und Frühjahr kommen, hat sich Kalymnos bestens eingestellt. Über 2.000 Routen sind präpariert und werden auch bestens beschrieben, kleine Läden bieten alles für die Ausrüstung an, sogar Kletterführer stehen bereit. Aber weil es weitaus mehr Betten als Kletterer gibt, führen die Wirte einen harten Preiskampf untereinander statt Preisabsprachen zu treffen. Das tut dem Geldbeutel der Aktivurlauber gut, aber nicht dem der Insulaner.
Kalymnos ist bestens auf Kletterer eingestellt.
Im nächsten Teil erfährt man etwas über die oft verkannte Insel Leros und seine ländliche Atmosphäre früherer Zeiten.
Text von Klaus Bötig