Auf Santorin drängen sich an manchen Tagen über 12.000 Kreuzfahrturlauber gleichzeitig durch die weißen Gassen der Kraterranddörfer. Mehr als 40 Maultiertreiber hasten dann auch weiterhin trotz eines tödlichen Unfalls im letzten Jahr mit ihren Tieren zwischen der Inselhauptstadt Fira und dem Alten Hafen hin und her, wohin viele Luxusschiffe ihre Passagiere ausbooten lassen.
Tierfreunde stehen lieber an der Seilbahn Schlange, die der reiche Reeder und Inselsohn Petros Nomikos seiner Heimat gestiftet hat, um die Kraterwand zu überwinden. Die Maultiertreiber ficht es nicht an: Sie bekommen ihren Anteil von den Einnahmen der neuen Konkurrenz.
Die berühmteste aller Kykladen ist nicht nur am Kraterrand schön
Hauptziel für alle modernen Kreuzfahrer sind die Läden und Galerien, Cafés, Weinstuben und Tavernen an der Kraterrandgasse zwischen dem Hauptort Fira, Firostefani und Imerovigli. Manche dringen bis ins vierte Kraterranddorf ganz im Norden vor, das für seine Sonnenuntergänge berühmte Oia. Nur wenige gehen auch in die wirklich sehenswerten archäologischen Museen von Fira oder fahren zu den Ausgrabungen von Akrotiri aus minoischer Zeit – doch das war’s dann auf jeden Fall schon. Die vielen anderen Inselschönheiten werden von den Kreuzfahrern verschont und dämmern recht ruhig vor sich hin.
Dörfer als Piratenfallen
Dabei besitzt Santorin auch abseits des Kraterrands kleine Dörfer, die es an kykladischer Formenvielfalt nicht fehlen lassen. Zwei besonders interessante heißen Pyrgos und Emborio. Sie sind um eine mittelalterliche Burg herum entstanden. Ihr wehrhafter Charakter ist klar zu erkennen. Besonders schön ist Emborio, das von noch weniger Touristen besucht wird als Pyrgos. Die Gassen im Kastro-Viertel winden sich scheinbar planlos, sind oft bewusst als Sackgassen angelegt, um eventuelle Piraten in die Falle zu locken. Die äußersten Häuser sind nahezu fensterlos, denn sie fungierten zugleich als Stadtmauer. Weil der Raum im geschützten Kastro eng war, baute man die Häuser nahtlos aneinander. So miteinander verzahnt, wurden die Dächer als Bewegungsebene über den Seeräubern nutzbar. Burgen gab es auch anderswo auf der Insel. Die von Akrotiri im Inselsüden wird zwar nicht mehr von einem wirklich alten Dorf umkränzt, ist dafür aber wieder mit neuem Leben erfüllt. Zwischen den Gemäuern aus dem 13. Jahrhundert werden traditionelle kykladische Dudelsäcke, die „Tsambounas“ ausgestellt und gebaut, an Sommerabenden erklingen dort jetzt Dudelsack-Konzerte.
Emborio - verwirrend für Piraten
Die Canyons von Santorin
Ein Charakteristikum Santorins sind die von Wasser und Wind ausgewaschenen Erosionstäler, die sich auf der der Caldera abgewandten Seite an den weniger steilen Hängen zum Meer hin ziehen. Auch in ihnen sind Dörfer entstanden. Sie boten den großen Vorteil, dass in die Bims- und Tuffsteinwände des Canyons ohne große Mühe Höhlenwohnungen und Höhlenkirchen gegraben werden konnten. Vourvouros und Kraterados sind zwei solcher Dörfer, die allerdings schon weitgehend von modernerer Bebauung umstanden sind. Ein Canyon-Dorf nahezu im Urzustand ist hingegen Vothonas. Die schmale, überhaupt nicht ausgeschilderte Zufahrtsstraße von der Straße Kamari-Fira her schlängelt sich anfangs nur an Agaven, Opuntien und niedrigen, staubigen Hängen vorbei. Dann passiert sie die erste Höhlenkirche und nicht mehr genutzte, verfallende Wohnhöhlen, in denen zum Teil noch Reste des alten Mobiliars stehen. Dann liegt nach einer Kurve das Dorf Vothonas vor dem Herannahenden.
Bougainvilleen, Geranien und Araukarien zeugen vom Verschönerungswillen der letzten Dorfbewohner, sogar einige Palmen ragen vor den Canyonwänden in den Himmel. Vorbei an der Dorfkirche schlängelt sich die schmale Betonstraße weiter durchs Dorf. Schließlich geht sie in einen Pfad über, der nach etwa fünf Minuten die einzigartige Höhlenkirche Panagia tis Sergianis mit ihrem zweigliedrigen Glockenturm erreicht. Weiß gekalkte Stufen mit blauem Handlauf führen die Bimssteinwand empor zu einer Tür, für die man sich den Schlüssel zuvor in einem der Häuser nahe der Dorfkirche geholt haben sollte. Mit etwas Geschick lässt sie sich öffnen. Innen führt eine sehr steile Treppe, von der ein Teil einziehbar ist, in den 14 Meter tief in den Bimsstein hinein gegrabenen Kirchenraum hinauf. Hier erwartet den Besucher eine Vielfalt von Gewölben und Rundungen, Bögen und Nischen, die kein moderner Künstler besser hätte entwerfen können. Man fühlt sich ein wenig an anthroposophische Architektur oder auch einen farblosen Friedensreich Hundertwasser erinnert.
Pyrgos ist bis heute ein sehr ursprüngliches Kykladendorf geblieben
In der Höhlenkirche von Vothonas
Ein Domizil namens „Kunstraum“
Kunstreich ist Santorin ohnehin. Ein exzellentes Beispiel für die Verschmelzung von moderner Kunst und Inseltraditionen hat Antonios Argyros nahe der Zufahrtsstraße nach Vothonas geschaffen. „Art Space“ heißt denn auch sein Domizil. In den langen, aus dem Bimsstein ausgehöhlten Räumen und Gängen einer alten Weinkellerei hatte er zunächst eine Kunstgalerie eingerichtet, in der in Griechenland lebende in- und ausländische Künstler ihre Werke ausstellen konnten. Dann begann er, die Räumlichkeiten auch wieder ihrem alten Verwendungszweck zuzuführen, ließ sogar neue Keller aus dem Bimsstein schaben. Hier baut er jetzt wieder hervorragende santorinische Weine in kleinem Umfang aus, brennt sogar santorinischen Tresterschnaps mit einem uralten Destilliergerät. Besucher führt er auf Englisch ohne Eintrittsgeld und Einkaufszwang durch sein ganzes Labyrinth, lässt sie in fast privatem Umfeld seine edlen Tropfen verkosten. Anders als die übrigen Weinkellereien der Insel ist sein „Art Space“ für Busreisegruppen tabu.
Totenstädte ...
Noch viel weniger Besucher als die Canyondörfer zählen die Friedhöfe Santorins, die in Griechenland kaum ihresgleichen haben. Ein besonders schönes Beispiel für santorinische Friedhofsgestaltung findet sich im Zentrum des Binnendorfes Vourvoulos. Auf zwei Seiten umgeben ihn neun Beinhäuser mit 13 blauen Kuppeln, so dass jedes Ossuarium wie eine kleine Kapelle, der Friedhof fast wie ein Kirchendorf wirkt. Fenster in den Türen ermöglichen meist einen Blick hinein auf die Kisten mit den Gebeinen der Verstorbenen und wieder Ausgegrabenen. Auf den Kisten stehen Blumen und Fotografien wie einst auf den Fernsehern in deutschen Wohnzimmern. An einem der Beinhäuser ist eine zweiteilige Marmorplatte angebracht. Eine Seite zeigt die Umrisse Santorins, darunter steht „Deine geliebte Insel“. Auf der anderen Seite ist zu lesen: „Für deine ewige Reise hast du unsere Liebe als Nahrung.“
... und Kirchweihfeste
So traditionell wie die Inselfriedhöfe sind auch die Kirchweihfeste auf Santorin. Schon einige Tage vor dem Patronatstag werden über den Kirchhof und umliegende Gassen zahlreiche Wimpel gespannt, an den Fahnenmasten die Flagge Griechenlands sowie die gelbe Flagge des Byzantinischen Reichs mit dem Schwarzen Doppeladler gehisst. Ein erster Gottesdienst findet am Vorabend des Patronatstages statt. Zum Hauptgottesdienst trifft man sich am nächsten Morgen gegen 7 oder 8 Uhr wieder. Im Rahmen der liturgischen Feier werden die bedeutendsten Ikonen der Kirche in feierlicher Prozession ums Gotteshaus oder durch die Gassen des Pfarrbezirks getragen. Schließlich segnet der Priester den Wein und die Speisen, die gleich anschließend an alle Anwesenden ausgeteilt werden. Für ihre Zubereitung steht an fast jedem Kirchhof eine eigene Küche zur Verfügung, das „panagirósito“, in dem man bei schlechtem Wetter auch an Tischen im Trockenen sitzen kann. Fremde sind bei der Essenausgabe willkommen, müssen sich aber ebenso in die Warteschlange einreihen wie jeder andere auch.
Vielfältige Strände
Was sich kaum ein Kreuzfahrer vorstellen kann, der nur wenige Stunden auf Santorin verweilt: Man kann auf der Insel auch baden. Liebhaber feinster Sandstrände werden hier zwar nicht fündig; für Familien mit Kleinkindern gibt es in Hellas viele weit besser geeignete Badeziele, aber für den, der landschaftlich einzigartige Beaches sucht, ist Santorin eine wahre Fundgrube. Auch zu Fuß gelangt man vom per Linienbus erreichbaren Akrotiri Beach beispielsweise zum Red Beach. Der zieht sich über 200 Meter weit vor einer in verschiedensten Rot- und Grautönen schimmernden Lava- und Schlackenwand entlang. Auch Boote fahren dorthin, steuern vom Red Beach aus zusätzlich noch den nur über See zugänglichen White Beach an. Nur etwa 30 Meter lang liegt er zu Füßen einer fast reinweißen Tuffsteinwand. Vor dem großen Badeort Kamari sonnen sich die Urlauber auf einem groben, dunklen Lavakiesstrand, vor Perissa und Perivoli ist der Lavasand hingegen recht fein, so dass auf ihm sogar Beach-Volleyball gespielt wird. So ist denn Santorin durchaus ein Urlaubsziel, an dem man auch gut zwei Wochen verbringen und dabei den Kreuzfahrerströmen durchaus aus dem Weg gehen kann.
Menschenarm: Der Strand von Kamari im Oktober
Text von Klaus Bötig