Als wir zum ersten Mal in die südarkadischen Hügel fuhren, auf der Suche nach Lykosoura, strömte der Regen. Überfallartig hatte er uns überrascht und hing nun in den waldigen Höhen fest als sei es für immer. Die Landstraße neben einem tobenden Flüsschen wurde ebenfalls zum Fluss, die baumbestandenen Weiden und Wiesen versanken im Wasserdunst. An der Stelle, wo ein rostendes Schild einen zerborstenen Steinblock als eine antike Zisterne auswies, kehrten wir um. Doch wir gaben die Suche nicht auf und kamen ein paar Frühlingswochen später wieder in diese bereits von Pausanias beschriebene Abgeschiedenheit.
Mit Pausanias unterwegs im südlichen Arkadien (Teil 2)
Irgendwo in grüner Einsamkeit gabelte sich das kurvige Sträßchen, rechts führte es zum 1420 Meter hohen Lykaion, der höchsten Erhebung der Hügelkette und links, dem Schild „Lykosoura“ folgend, ging es eine kleine, steile Anhöhe hinauf, bis der Asphalt von einem blumenübersäten Feldweg abgelöst wurde und dann standen wir vor Zäunen mit verschlossenen Gittertoren, hinter denen sich unerreichbare Steinmonumente aus dem Gras hoben … Auf der anderen Seite des Wegs, wieder hinter Zaun und Riegel, ein aus den Mauersteinen der Gegend gefügtes festes Haus, das sich „Museum“ nennt. Bei unserem dritten Besuch, wo wir eine große Gruppe erkundungsfreudiger Ausflügler des Deutsch-Griechischen Vereins „Philadelphia“ hierher führten, hatten wir vorgesorgt und uns beim Archäologischen Amt der Präfekturhauptstadt Tripolis angemeldet: Und das ist jedem Reisenden zu raten, der sich hier hin wagt, denn nur so öffnen sich die Tore. Unterwegs beschäftigten wir uns mit Pausanias` Reisebericht über Arkadien und seinen gruseligen Schilderungen aus wilder Vorzeit.
Von „nächtlichen Mysterien“ berichtet uns Pausanias …
Die verstreuten Überreste der antiken Stadt Lykosoura liegen am Aufstieg zum Lykaion, der von einer größeren Zahl kaum erforschter archäologischer Fundstellen umringt ist. Die Lage für eine Siedlung war ideal, fruchtbar und in bester Verteidigungslage am Hang mit Übersicht über die gesamte Ebene von Megalopolis.Anfang des vorigen Jahrhunderts fanden hier Ausgrabungen statt, die nicht wieder aufgenommen wurden. Man deckte tief unter dem Hügel, auf dem heute das Museum steht – Vorsicht, der Abstieg ist riskant – eines der zweifellos bedeutendsten örtlichen Heiligtümer Arkadiens auf, das einer sonst in Griechenland unbekannten Göttin namens Despoina geweiht war. Ihr bescheidener Tempel (mit Vor-, aber ohne Ringhalle) steht mit einer seitlichen Tür baugeschichtlich in der Nachfolge des Athena-Tempels von Tegea und die Intention, den Blick der Pilger in Richtung Cella zu lenken, ist hier gesteigert durch eine zehnstufige Schautreppe. Nahebei befand sich eine Halle für Weihegaben und ein „Megaron“, in dem sich laut Pausanias nächtliche „Mysterien“ abspielten. In diesem kompakten Bau wurden zahlreiche merkwürdige Idole mit Tierköpfen gefunden. Alle Baulichkeiten sind in ihren Grundrissen mit wenig aufsteigenden Mauerresten erhalten.
Diese Stadt sah „die Sonne als erste“
Jenseits des Feldweges vor dem Museum ragen die stattlichen Monumente eines einstigen Brunnen- und Badehauses mit Becken, Zisternen und offenen Zuflusskanälen aus der Wiese. Den Berghang hinauf finden sich Ruinenteile der Stadt. Sie stammen aus dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., während die Sakralbauten und das Brunnenhaus noch wesentlich jünger sind und in den Hellenismus des späten 3. bzw. 2. Jahrhunderts v. Chr. gehören. Vorzeitliche Überreste hat man bei den Ausgrabungen nicht gefunden. Das ist erstaunlich, weil Lykosoura schon in der Antike als „älteste Stadt der Welt“ von sich reden machte. Pausanias schreibt, dass von den Städten, „die die Erde auf dem Festland und den Inseln aufwies“, Lykosoura „die Sonne als erste“ sah, „von dieser haben die übrigen Menschen es gelernt, Städte zu bauen“. Er führt die Genealogie der Bewohner auf den mythischen Stammvater der Ureinwohner Griechenlands, Pelasgos, zurück, der aufgrund seiner Stärke, Schönheit und seines Verstandes zum König gewählt worden sei. Pelasgos befahl, Hütten zu bauen, damit die Menschen nicht unter den Unbilden des Wetters litten, zeigte ihnen, wie man aus den Häuten von Schweinen Kleider machte und welche Pflanzen essbar, welche schädlich sind …
Lykaon, des Pelasgos` Sohn, machte, so berichtet Pausanias, eine „noch bessere Erfindung“ als sein Vater, denn er „erbaute die Stadt Lykosoura auf dem Berge Lykaion, nannte den Zeus ‚Lykaiosʻ und richtete ihm Kampfspiele ein, die ‚Lykaienʻ“. Lykaon neigte aber auch zu Hybris und Freveln. Er brachte dem Lykaischen Zeus ein Menschenkind zum Opfer und „sprengte das Blut auf den Altar“. Noch während des Opfers wurde er in einen Wolf verwandelt. Dass alle Ortsnamen das Wort „Lykos“ – „Wolf“ enthalten, bezieht sich wohl auf diese Geschichte.Pausanias gibt auch seine eigene Meinung preis: „Ich für meine Person glaube an diese Sage, denn von alters her wird sie von den Arkadern erzählt … Die damaligen Menschen waren wegen ihrer Gerechtigkeit und Frömmigkeit Freunde und Tischgenossen der Götter und augenfällig wurde ihnen von den Göttern, wenn sie gut waren, Belohnung, wenn sie Unrecht taten, ebenso auch die Strafe zuteil …“Mehrere antike Quellen berichten indes, dass die Bewohner von Lykosoura noch bis in die Hochklassik des 4. Jahrhunderts v. Chr., auf dem Altar des Zeus, der auf dem Gipfel des Lykaion stand, Kinderopfer dargebracht und rituellem Kannibalismus gefrönt hätten.
Die Ruine des Brunnen- und Badehauses
Heimatort der Schwester der Fruchtbarkeitsgöttin
Auf dem Lykaion befindet sich tatsächlich eine nicht ummauerte riesige, in große Tiefe reichende Asche-Ansammlung. Amerikanische Archäologen haben sie bis auf die unterste, mykenische Schicht untersucht: Sie fanden nur verkohlte Reste von Schafs- und Ziegenknochen … Zu arkadischen Riten allerdings gehörten laut Pausanias grausame Opferszenarien, indem das Opfertier nicht durch einen schnellen Halsschnitt getötet wurde, sondern jeder Teilnehmer wild auf es einstach …Diese Sagen reichen in die Anfänge der menschlichen Zivilisation zurück, wobei interessant ist, wie sehr sich die Mythen mit der realen Entwicklung decken, vom Sammeln und der unmittelbaren Verwendung von Erzeugnissen der Natur hin zum Erlernen von Techniken, zur Sesshaftwerdung in Siedlungen mit Feldanbau und Viehzucht …Die geheimnisvolle Göttin Despoina, die in Lykosoura verehrt wurde, wird als uralte örtliche Fruchtbarkeitsgöttin interpretiert, als eine „Schwester“ der eleusinischen Persephone. Dem Mythos nach streifte Demeter auf der Suche nach ihrer von Hades entführten Tochter Persephone auch durch Arkadien. Dabei wurde sie von Poseidon beobachtet, der, in Leidenschaft entflammt, über sie herfiel und sie schwängerte. So gebar Demeter eine zweite Tochter – Despoina, eine rein arkadische Göttin. Die geheimnisvollen Tempelriten von Lykosoura dürften den Mysterien von Eleusis ähnlich gewesen sein.
Haustiere in Frauenkleidern und tierisch-menschlichen Mischgestalten
Wer den einzigen kleinen Saal des Museums von Lykosoura betritt, erlebt eine Überraschung von überwältigender Wirkung: An die Längswand lehnen sich die überlebensgroßen Fragmente der vierfigurigen 5. 60 Meter hohen marmornen Kultbildgruppe, Torsen mit Köpfen und Gewandteilen und in Vitrinen liegen monumentale Bruchstücke einzelner Gliedmaßen sowie die tönernen Tieridole aus dem „Megaron“. Auf dem Saum des Gewandes der Despoina ist in feinem Relief ein Reigen aus Haustieren in Frauenkleidern oder tierisch-menschlichen Mischgestalten dargestellt, die sich vielleicht auf die Mysterienspiele beziehen. Die Statuen zeigten Despoina und Demeter auf einem Doppelthron, daneben stehend Artemis mit einem Jagdhund und der Riese Anytos, ein Nachkomme der Titanen. Schöpfer der Gruppe ist der Bildhauer Damophon aus Messene, der zwischen 223 und 190 v. Chr. tätig war. Unversehrt ist in dem Museum auch ein monumentaler Leuchter erhalten, wohl einer von denen, welche die nächtlichen Feiern erhellten.
Monumentalfiguren und Bruchstücke im Museum
Von heidnischen Stätten zum „Garten der Heiligen“
Die dicht bewaldete Bergwelt um Lykosoura sollte man nicht so schnell verlassen, sondern weiter fahren Richtung Vastas. Nach steiler kurviger Auffahrt geht es in Serpentinen hinab ins Tal eines rauschenden Gebirgsbachs, über dessen Gestade ein christliches Mysterium zu bestaunen ist, das „Baumwunder der Heiligen Theodora“. Aus dem Dach und den Wänden einer alten Kapelle wachsen hohe Steineichen mit kräftigen Stämmen, die das Kirchlein weit überragen, ohne dass man erklären könnte, in welcher Erde ihre Wurzeln Nahrung fänden … – Die Taverne auf der anderen Straßenseite ist empfehlenswert, sie bietet gute Gerichte und kräftiges selbst gebackenes Landbrot. Ihr Name: „O Kipos tis Agias“ – der „Garten der Heiligen“.
Das Baumwunder der heiligen Theodora
Text von Ursula Spindler-Niros