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Das Heraion von Argos – Ein wenig beachteter Höhepunkt im Herzen der Argolis

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Hallen der mittleren Terrasse Hallen der mittleren Terrasse
Die Argolis im Nordosten der Peloponnes ist eine der reichsten Kulturlandschaften Griechenlands. Allenthalben stößt man hier auf historisch bedeutende Orte, von denen so mancher auch durchaus ein regelrechter Publikumsmagnet ist, kann er doch mit Fug und Recht den Rang eines absoluten Highlights für sich in Anspruch nehmen. An einer Stätte jedoch zieht der Besucherstrom so gut wie immer achtlos vorüber, obwohl gerade sie in der Region zu den wichtigsten überhaupt zählt: das Hera-Heiligtum (Heraion) von Argos.
 
Im Altertum war das Hera-Heiligtum nicht nur das kultische Zentrum der Argolis, es galt auch als eine der ehrwürdigsten griechischen Sakralstätten schlechthin. Die Liste seiner Priesterinnen wurde bis in mythische Zeiten zurückgeführt, und hier war es auch, wo Agamemnon von den übrigen Heerführern des Zuges gegen Troja zum Oberbefehlshaber gewählt worden sein soll. Hera, die auch anderswo hochverehrte Gattin des Göttervaters Zeus, hatte ein ganz besonderes Verhältnis zu diesem Platz, und ihr bereits von Homer verwendeter Beiname Argeia ( „Argiverin“) unterstreicht die enge Bindung der Göttin an den Ort. Von Argos aus erfolgte dann auch eine weitere Ausbreitung ihres Kults. 
Müssen wir uns das argivische Heraion in der Antike also überaus wertgeschätzt und somit auch entsprechend frequentiert vorstellen, so erlebt der heutige Besucher den Ort normalerweise als Hort der Ruhe und in all seiner Abgeschiedenheit als außerordentlich stimmungsvollen Platz, der seinesgleichen sucht. Viel erhalten ist nicht, doch schon das Wenige lässt den ursprünglichen Zustand zumindest ansatzweise erahnen, und den besonderen Reiz macht ohnehin die geradezu überwältigende Lage des Heiligtums aus. Hinterfangen von den Ausläufern eines Bergmassivs erstreckt es sich über drei Terrassen auf einer kleinen Anhöhe. Von dieser aus bietet sich ein grandioses Panorama: Weit reicht der Blick über die fruchtbare, von Höhenzügen flankierte Ebene bis hin zum Argolischen Golf. In der Ferne ragt dort über Nafplio mächtig die große Festung Palamidi empor, darunter schiebt sich Akronauplia, die alte Akropolis, geschmeidig ins Meer hinein. Gegenüber erkennt man Argos mit dem hohen Kegel seines Burgbergs, der Larissa. Sich der einzigartigen Faszination dieses Ausblicks zu entziehen, dürfte  nur schwer möglich sein.
 
Hekatombe: Opferung von 100 Kühen
 
In der Antike gehörte das Heraion zur etwa acht Kilometer entfernt liegenden Stadt Argos. Hatte zunächst wohl auch Mykene Ansprüche auf den Kultplatz erhoben, diese waren jedoch spätestens mit der Eroberung der Stadt durch die Argiver im Jahre 468 v. Chr. endgültig vom Tisch. Von Argos aus wurde das Heiligtum verwaltet und von dort geleitete die Priesterin der Hera – auf einem Wagen, der von einem Ochsengespann gezogen wurde – einmal im Jahr auch eine große Prozession durch die Ebene zum Kultbezirk hin, um hier die sogenannten Heraia, das mehrere Tage andauernde Fest zu Ehren der Göttin zu begehen. Teil des Zuges waren die für das Opfer vorgesehenen 100 Kühe, von deren Zahl sich auch die Bezeichnung Hekatombe (hekaton = 100) für das Kultfest herleitet. Anlässlich der Feierlichkeiten strömten die Menschen aber nicht allein aus Argos zum Heraion, auch von anderen Orten kamen sie in großer Zahl herbei. So müssen wir uns an jenen Tagen also nicht nur sein Inneres, sondern die gesamte Umgebung von einem frommen und bunten Treiben erfüllt vorstellen. Im Heiligtum selbst wurden die Neuankömmlinge auf der unteren Terrasse von den schon anwesenden Festteilnehmern erwartet. Die noch heute gut zu erkennende, große Freitreppe mit der nach links eingefügten Halle bot dafür den geeigneten Rahmen. Einmal freilich werden die Gläubigen beim Eintreffen der Priesterin nicht schlecht gestaunt haben. Weil nämlich die Zugtiere nicht rechtzeitig bereit waren, sollen sich kurzerhand Kleobis und Biton, die Söhne der damaligen Priesterin, vor deren Wagen gespannt und ihn bis ans Ziel gezogen haben. Wie wir hören, bat die gerührte Mutter ihre Göttin für die beiden daraufhin um das Beste, das einem Menschen zuteil werden könne. Hera erfüllte diesen Wunsch, indem sie die schlafenden Jünglinge nicht wieder aufwachen ließ, sondern ihnen einen friedvollen Tod schenkte. Die Kunstgeschichte verdankt diesem Ereignis zwei ihrer frühen Hauptwerke. Die Argiver stifteten nämlich Statuen von Kleobis und Biton nach Delphi, die bei den Ausgrabungen dort wiederentdeckt wurden.
 
KleobisSMALL
Statuengruppe von Kleobis und Biton, frühes 6. Jh. v. Chr. (Museum Delphi)
 
Bild der Hera prangte auf den Münzen
 
Über die große Freitreppe gelangte man zur mittleren Terrasse hinauf und erreichte so das eigentliche Zentrum der Anlage. Hier erhob sich der Tempel der Hera, dessen beherrschende Lage durch die erhaltenen Fundamente noch gut zu erkennen ist. Der argivische Architekt Eupolemos errichtete den Bau um 420/10 v. Chr. Das Kultbild, das er barg, war ein Werk des ebenfalls aus Argos stammenden Bildhauers Polyklet, unbestritten einer der größten Künstler der Antike. Die hochgerühmte, aus Gold und Elfenbein gearbeitete Sitzstatue der Göttin soll selbst dem Vergleich mit jener des Zeus in Olympia standgehalten haben, und die genoss ja immerhin den Ruf eines Weltwunders. So überrascht es denn auch nicht, dass die Argiver das Bild der Hera stolz auf ihre Münzen prägten. Zwei schon ältere, gegen den Hang gelegene Hallen boten die Möglichkeit, die Kulthandlungen, die vor dem Tempel vollzogen wurden, bequem aus dem Schatten heraus zu verfolgen. Rätselhaft bleibt dagegen die Funktion eines durch Säulenreihen gegliederten, mehrschiffigen Baus, der am Ostende der Terrasse dem Tempel gegenüber lag. Er wird aber gewiss eine besondere Rolle im kultischen Kontext gespielt haben. Die offiziellen, zum Ablauf der Feierlichkeiten gehörenden Festbankette wurden in einem Gebäude abgehalten, das etwas unterhalb der Terrasse im Westen des Tempels lag.
 
Im Visier der römischen Kaiser
 
Hinter den beiden genannten Hallen ragt eine mächtige „Zyklopenmauer“ auf, welche die obere Terrasse des Heiligtums stützt. Dort wurde bereits in der 1. Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr. ein erster Tempel für Hera erbaut. Dieser fiel im Jahre 423 v. Chr. jedoch einem Brand zum Opfer, den die Priesterin Chrysis verursacht haben soll. Thukydides berichtet, dass sie daraufhin aus Furcht vor den zu erwartenden Konsequenzen in Phleious Zuflucht gesucht habe. Vom alten Tempel selbst sind zwar nur wenige Spuren zu erkennen, der Blick aber, der sich von hier oben bietet, ist geradezu umwerfend und erzeugt im Verein mit der Stille der Natur eine ganz besondere Atmosphäre. Man fühlt sich eingeladen zu verweilen und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen.
Der Ruhm des Heiligtums hielt auch in römischer Zeit an. Damals erweiterte man die Anlage um ein Gymnasion und eine Badeanlage, deren Reste im Gelände noch auszumachen sind. Und selbst das Augenmerk der römischen Kaiser zog das Heraion auf sich. So hören wir von Nero, dass er einen goldenen Kranz sowie einen purpurnen Mantel in den Tempel stiftete, Hadrian schenkte einen prächtigen, edelsteinbesetzten Pfau aus Gold, ein der Göttin heiliges Tier. Die Anlage blieb also auch weiterhin ein prominenter Kultort, dessen Bedeutung im Bewusstsein der Zeitgenossen fest verankert war.
Von der architektonischen Gestalt des Heiligtums ist heute zwar nicht mehr viel erhalten; es sind nur wenige Ruinen, die noch Zeugnis von seiner einstigen Größe ablegen. Dennoch aber erschließt sich dem Besucher nahezu mühelos eine Ahnung von der ehemaligen Majestät des Platzes. Einen Abstecher lohnt das Heraion allemal, und es wäre schade, sich bei einem Aufenthalt in der Argolis dieses ganz besondere Erlebnis entgehen zu lassen.
 
Mittlere Terrasse mit Fundamenten des Hera Tempels
Mittlere Terrasse mit Fundamenten des Hera-Tempels
 
Text und Fotos von Jens Rohmann
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