Der Leiter des UNICEF-Büros in Griechenland, Luciano Calestini, sieht besorgniserregende Tendenzen bezüglich der Situation für Kinder im Land. Nicht nur im Bildungs-, sondern auch im Gesundheitssystem gebe es für sie erschreckende Defizite.
Griechische Kinder figurieren auf so manchen Negativ-Listen auf den vorderen Plätzen. Die Gründe dafür liegen dem UN-Beamten zufolge auf der Hand.
„Griechenland kann mit Fug und Recht behaupten, das kinderfeindlichste Land der Europäischen Union zu sein.“ Diese Meinung vertrat Luciano Calestini, Leiter von UNICEF-Griechenland, und schlägt Alarm. In einem Interview mit der Tageszeitung Kathimerini begründete er seine Aussagen mit den Ergebnissen von mehreren Statistiken. Dabei stehe es für die Kinder in Hellas besonders in den Bereichen Übergewicht, Armut und mentale Gesundheit schlecht. „Die Situation für Kinder in Griechenland ist nicht gut“, warnt Calestini. Da ist zum Beispiel die Fettleibigkeit: Griechenland lag hier 2019 auf dem zweiten Platz in der gesamten Europäischen Union. Dieses Ranking resultiert aus Daten des Europäischen Observatoriums für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik, welches von der Weltgesundheitsorganisation WHO geleitet wird. Etwa 600.000 Kinder seien laut Calestini von diesem Phänomen betroffen – insbesondere jene, die primär von einem Großelternteil versorgt werden. Sie haben eine 58 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, übergewichtig zu werden. Auf der anderen Seite gab das Statistische Amt der Europäischen Union bekannt, dass Griechenland für das Jahr 2020 beim Thema Kinderarmut auf Platz 4 aufscheine.
Zu wenig Geld für Kinder
Calestini identifiziert verschiedene Gründe für die herrschenden Zustände, sieht die Schuld dafür aber nicht bei einer politischen Partei allein. Zwar seien seit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention 1993 über 80 Gesetze und Aktionspläne verabschiedet worden. Weil jedoch keine Ziele festgeschrieben wurden oder Budgets fehlten, „haben wir in Griechenland immer noch keine Klarheit darüber, was die nationale politische Agenda für Kinder ist und wer dafür zuständig ist“, erklärt der UNICEF-Mann gegenüber der Kathimerini. Die existierenden Defizite bei den Lebensbedingungen für die Kinder „sind das Ergebnis von sieben Jahrzehnten unzureichender politischer Maßnahmen“, so Calestini. Dem Bildungssystem in Hellas werde viel Aufmerksamkeit zuteil, gleichzeitig seien die Bildungsausgaben wesentlich geringer als im EU-Mittel: „Durchschnittlich geben die Staaten der EU 7.000 Euro jährlich pro Kind für Bildung aus, in Griechenland sind es 2.688“, stellt Calestini fest. 2019 war dem nur 3,68 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Bildung aus, damit war es in der EU erneut auf dem vorletzten Platz. Das Thema „Kind“ sei in der Öffentlichkeit ein weniger präsentes Thema. Die Lage werde darüber hinaus verschärft durch Mängel im Gesundheitssystem sowie der Tatsache, dass ein soziales Sicherungssystem, welches „alle vulnerablen Kinder einschließt“, fehle.
Keine Priorität
Calestini verweist in dem Interview auch darauf, dass natürlich berücksichtigt werden müsse, dass sich Griechenland derzeit aus einer der wirtschaftlich schwierigsten Phasen seiner Geschichte herausarbeite. Er bezog sich dabei sowohl auf die Finanz-, als auch auf die Klima- und die sogenannte Geflüchtetenkrise. Derartige Krisen seien Phänomene, mit denen sich künftige Generationen auseinandersetzen müssten, „sie werden nicht verschwinden“. Im Hinblick auf die alternde Gesellschaft strich Calestini heraus, dass „die finanzpolitischen Entscheidungen, die wir heute treffen, Auswirkungen auf die Zukunft des Landes haben“. Und das tangiert insbesondere jene, die heute Kinder sind und morgen für eine alternde Gesellschaft wirtschaftlich Sorge tragen und sie „aufrechterhalten müssen“. Der griechische UNICEF-Leiter betonte schließlich, dass Griechenland seine Haushaltsprioritäten neu ausrichten müsse, um sicherzustellen, „dass unsere Kinder, die die am meisten vernachlässigten Kinder in Europa sind, nicht mehr die am meisten vernachlässigten Kinder Europas sind“. Die Lage der Kinder in Hellas aber laut Calestini nicht nur Grund zur Sorge: Griechenland sei „mutig genug gewesen, sich einzugestehen, dass schnellere Fortschritte in diesem Bereich erfolgen müssten. „Ich hoffe nur“, fügt er hinzu, „dass diese positive Herangehensweise aufrechterhalten werden kann, und zwar von allen Regierungen.“
(Griechenland Zeitung / Marco Fründt)