Möchte man in einer griechischen Taverne Wein bestellen, dann ordert man κρασί (krasí). Dieser ist entweder λευκό bzw. άσπρο (lefkó / áspro: „weiß“) oder κόκκινο (kókkino: „rot“), vielleicht auch ροζέ (rosé). Steht man allerdings vor dem Weinregal im Supermarkt, sucht man das Wort krasi auf den entsprechenden Etiketten nicht selten vergebens.
Dort findet sich stattdessen fast durchgehend die Bezeichnung οίνος (ínos) für den Flascheninhalt, der dann in aller Regel entweder λευκός (lefkós: „weiß“) ist oder aber ερυθρός (erithrós: „rot“). Würde man jedoch in der Taverne um inos bitten, hätte dies zumindest einen recht verdutzten Blick des Kellners zur Folge. Denn was auf dem Flaschenetikett ganz selbstverständlich ist, klingt bei einer mündlichen Bestellung viel zu formell und antiquiert. Das Wort inos nämlich, das ursprünglich aus dem Altgriechischen kommt, entstammt im heutigen Gebrauch der hochsprachlichen Katharévoussa (dt. etwa „Reine [Sprache]“). Weitgehend seit dem Ende des 18. Jahrhundert entwickelt, fungierte diese lange Zeit als Amtssprache Griechenlands, auch wenn sie im Alltag normalerweise gar nicht gesprochen wurde. Erst 1976 musste sie ihre offizielle Funktion an die Dimotikí (dt. etwa „Volkssprache“) abtreten, die eigentlich gesprochene Form des Neugriechischen. Und in dieser ist eben von krasi die Rede und nicht von inos. Hat die Katharevoussa ihre einstige Bedeutung mittlerweile auch weitgehend eingebüßt, ist sie – wie schon das Beispiel mit den Flaschenetiketten zeigt – aus dem Sprachgebrauch der Griechen aber keineswegs vollständig verschwunden. So findet sich der hochsprachliche Begriff beispielsweise vielfach noch als offizielle Bezeichnung von Geschäften. Zwar sagt jedermann, er gehe zum φούρνος (fúrnos), am Laden selbst wird zumeist aber αρτοποιείο (artopiío, „Bäckerei“) stehen. Und selbst in der gesprochenen Sprache sind hochsprachliche Formeln immer wieder mal zu hören: Mit Ζήτω η Ελλάς (Síto i Ellás) lässt man Griechenland hochleben und Εις Υγείαν (Is Ijían – „Auf die Gesundheit“) ist ein gerne verwendeter Trinkspruch beim Essen.
Jens Rohmann