Auszug aus der gleichnamigen Erzählung:
Eines Tages näherte ich mich ihr unbemerkt, als sie kniefällig vor der Ikone des Heilands weinte. „Nimm mir, welches Kind du willst“, sagte sie, „und lass mir das Mädchen. Ich sehe, dass es geschehen soll. Du hast dich an meine Sünde erinnert und beschlossen, mir mein Kind zu nehmen, um mich zu strafen. Ich danke dir, Herr!“
Nach einigen Augenblicken tiefen Schweigens, während dessen zu hören war, wie ihre Tränen auf den Boden tropften, stöhnte sie aus der Tiefe ihres Herzens, zögerte ein wenig und fügte dann hinzu: „Ich brachte zwei meiner Kinder zu deinen Füßen ... Schenke mir das Mädchen!“ Als ich diese Worte gehört hatte, durchliefen meine Nerven kalte Schauer, und es begann in meinen Ohren zu sausen. Ich hatte nicht die Kraft, noch mehr zu hören. In dem Augenblick, in dem ich sah, dass meine Mutter, von schrecklicher Verzweiflung überwältigt, besinnungslos auf die Marmorplatten fiel, nutzte ich, anstatt ihr zu Hilfe zu eilen, die Gelegenheit, um die Kirche zu verlassen, wobei ich wie verrückt rannte und Schreie ausstieß, als ob der Tod in Person mich zu ergreifen drohte. Meine Zähne klapperten vor Grauen, und ich lief und lief noch immer. Und ohne es gemerkt zu haben, befand ich mich plötzlich weit, sehr weit von der Kirche entfernt. Da machte ich halt, um Atem zu holen, und ich wagte es, mich umzudrehen und zurückzuschauen. Niemand verfolgte mich. Ich begann also, mich nach und nach zu fassen und nachzudenken. Ich rief mir alle meine Zärtlichkeiten und Liebkosungen der Mutter gegenüber ins Gedächtnis zurück. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich mich ihr gegenüber irgendwann schuldig gemacht, ob ich ihr Unrecht angetan hatte, aber vergeblich. Im Gegenteil, ich fand, dass ich, seit diese unsere Schwester geboren worden war, nicht nur nicht geliebt, wie ich es mir wünschte, sondern geradezu mehr und mehr verdrängt wurde. Da erinnerte ich mich, dass mein Vater mich sein Benachteiligtes zu nennen pflegte, und es schien mir, ich begriffe, warum. Und ich wurde innerlich erschüttert und fing an zu weinen. Ach, sagte ich mir, meine Mutter liebt mich nicht und will mich nicht haben! Nie, nie mehr gehe ich in die Kirche! Und ich nahm den Weg zu unserem Haus, tieftraurig und verzweifelt. Es dauerte nicht lange, bis auch meine Mutter mit der Kranken mir nachfolgte. Denn der Priester, der, aufgeschreckt von meinem Geschrei, in die Kirche gekommen war, hatte, nachdem er die Kranke gesehen hatte, meiner Mutter den Rat gegeben, sie wegzubringen. „Gott ist groß, meine Tochter“, sagte er zu ihr, „und seine Gnade reicht in die ganze Welt. Wenn dein Kind geheilt werden soll, wird er es auch in deinem Haus heilen.“ Wie unglücklich war die Mutter, als sie ihn hörte! Denn das sind die typischen Worte, mit denen die Priester gewöhnlich die Todkranken wegschicken, damit sie nicht in der Kirche ihr Leben aushauchen, wodurch die Heiligkeit des Ortes entweiht würde. Als ich meine Mutter wiedersah, war sie so traurig wie nie zuvor. Aber besonders mir gegenüber zeigte sie viel Milde und Freundlichkeit. Sie nahm mich in ihre Arme, streichelte und küsste mich zärtlich zum wiederholten Mal. Es schien, dass sie versuchte, mir gegenüber Sühne zu tun.
Auszug aus der Neuerscheinung: Zwei Erzählungen von Georgios Vizyinos
Der bedeutende griechische Erzähler Georgios Vizyinos (1850-1896) hat mit den beiden in diesem Band enthaltenen, stark autobiographisch geprägten Novellen Marksteine der neugriechischen Literatur gelegt. In der Kriminalerzählung „Wer war der Mörder meines Bruders?“ entwirft er ein komplexes Geflecht um Schuld, Rache und kulturelle Identität zwischen Konstantinopel und Ostthrakien, seiner Heimat. Dort spielt auch „Die Sünde meiner Mutter“, eine Novelle, die den Beginn der „Ithographia“ markiert, einer Erzählgattung, welche die Sitten und Gebräuche des Volkes in den Mittelpunkt stellt. In beiden Fällen erweist sich Vizyinos als ein Meister der Form: Er ist ein maßgeblicher Pionier der neugriechischen Erzählung.