Die Prinzessin Ariadne blickte überrascht auf, als auf dem sonnen¬durchfluteten Hof plötzlich ein junger Mann auftauchte. Er war schlank und etwa zwanzig Jahre alt, sein kastanienbraunes Haar war mit einem goldenen Band nach hinten gebunden, und er trug einen eng geschnallten roten Gürtel, an dem ein kurzes, breites Messer mit goldziseliertem Griff baumelte. „Schon wieder er!“, murmelte Ariadne und wandte sich kurz nach ihrer Schwester um, ob sie auch tatsächlich schlief. „Ein Glück!“, befand sie, als sie die schlafende Phaidra betrachtete.
Der junge Mann ging ganz ruhig durch den riesigen Palasthof und blickte sich dabei aufmerksam um, als wollte er alles für immer in sein Gedächtnis bannen. Sein wachsamer Blick wanderte über die Treppen und die schmalen Korridore. Dann hob er den Kopf und betrachtete den dreigeschossigen Palast mit seinen Fenstern, Erkern und Terrassen, wobei er sich Schritt für Schritt jedes Detail einprägte. „Ich darf nichts vergessen!“, dachte er, den Blick auf die eindrucksvolle und friedlich daliegende Palastanlage geheftet. Ariadne, die am Fenster lehnte, runzelte ihre sichelförmigen Brauen. „Wer kann das nur sein?“, dachte sie. „Drei Tage lang streift er schon durch den Palast, ohne ein Wort zu sagen und ohne eine Frage zu stellen. Er schaut sich nur um, sonst nichts! Seiner Kleidung nach zu schließen ist er ein Fremder. Da kommt mir ein schrecklicher Verdacht: Malis, der Anführer der Palastwache, schleicht ihm bestimmt hinterher und spioniert ihm nach. Oh, da ist er schon!“ Hinter der Säule tauchte ein bauernschlaues, bartloses Gesicht, mit kleinen schwarzen Augen und spitzem Kinn auf. Malis richtete zornige Blicke auf den jungen Mann, als wolle er sich gleich auf ihn stürzen und zu Boden werfen! „Oh, Mutter“, flüstere Ariadne voller Angst. „Oh, große Göttin, halte deine schützende Hand über ihn! Malis darf ihn nicht töten!“ Nachdem der junge Mann den Hof durchquert und die Treppen zum Theater hinuntergegangen war, trat er auf die große, gepflasterte Straße, die aus dem Palast hinausführte. Malis folgte ihm mit leisen Schritten und eingezogenem Kopf, wie eine Wildkatze, die einen Vogel jagt. „Wohin will er?“, murmelte die Prinzessin mit zitternder Stimme, und das Herz klopfte ihr bis zum Hals. „Bestimmt zum Hafen, um abzureisen!“ Fast hätte sie ausgerufen: „Malis, halt ihn fest, lass ihn nicht gehen!“ Doch sie riss sich zusammen. „Ich bin eine Prinzessin“, dachte sie. „Ich muss mich beherrschen. Mein Gesicht muss reglos und gelassen bleiben, damit keiner meine Gedanken errät.“ Sie klappte den Fächer auf und verschaffte sich ein wenig Kühlung. Trotzdem lief ihr der Schweiß von der Stirn, und das Rouge auf ihren Wangen zerlief. Obwohl die Sonne glühte und die Grillen in den Ölbäumen zirpten, waren die Bauern wieder an der Arbeit. Im leichten Luftzug, der sich erhoben hatte, warfen die Worfler die Halme mit ihren hölzernen Heugabeln in die Höhe, so dass die Weizenkörner zu ihren Füßen zu Boden fielen. „Die armen Bauern, wie hart sie arbeiten!“, dachte die Prinzessin. „Jahrein jahraus verrichten sie Sklavenarbeit. Sie pflügen die Äcker, sie säen die Saat, sie bringen die Ernte ein und worfeln das Getreide. Dann kommen die Palastwächter, sammeln vor ihren Augen die Saat ein und schaffen sie in unsere großen königlichen Magazine. Wie ungerecht! Und was bleibt den Bauern? Nichts als das leere Stroh! “
Auszug aus dem Roman „Im Palast von Knossos“ des weltberühmten griechischen Schriftstellers Nikos Kazantzakis.
Aus der Sicht jugendlicher Helden beschreibt Kazantzakis in seinem Roman das Leben am Hofe des sagenhaften Königs Minos auf Kreta. Frisch und lebendig erzählt er von Ariadne und Phädra, von Theseus, Daidalos und Ikaros. Alle diese Gestalten der griechischen Mythologie werden bei ihm von Mythen zu Menschen. Ganz nebenbei arbeitet Kazantzakis das Alltagsleben plastisch heraus. Bei der Lektüre taucht man in eine 3500 Jahre alte Zivilisation ein, und diese geheimnisumwitterte Vergangenheit erscheint plötzlich wie zum Greifen nahe. Ein Werk, das an Aktualität niemals einbüßen wird.