Der 19. Mai ist für die Pontosgriechen ein wichtiger Gedenktag, denn an diesem Tag im Jahr 1919 begann die dritte und abschließende Phase der Vernichtung und dauerhaften Vertreibung der griechisch-orthodoxen Bevölkerung aus der Schwarzmeerregion (Pontos) und Kleinasien.
Jedes Jahr am 19. Mai erzählen die Pfarrer in ihren Predigten in den griechisch-orthodoxen Kirchen von diesem Genozid an den Pontosgriechen. Man muss sich dessen erinnern, es im Bewusstsein halten, aber nicht mit Hass gegenüber den Türken, sondern mit Liebe.
Dieses Jahr ist ein besonderes, denn der Genozid jährt sich zum hundertsten Mal. Das ist Anlass genug, dass die Mitglieder aller Vereine der Griechen aus Pontos in Hessen sich an diesem sonnigen Sonntag in Frankfurt am Main zu einem gemeinsamen Schweigemarsch getroffen haben. Sie versammelten sich zunächst vor der wunderschönen griechisch-orthodoxen Kirche des Heiligen Georgios im Grüneburgpark. Um 14:30 begann der Marsch. Vorneweg eine kleine Gruppe mit insgesamt drei Lyra-Spielern. Es wurden den ganzen Marsch über Lieder von ihnen gesungen. Sie handeln von dem Schmerz und dem Verlust aufgrund dieser Gräueltaten.
Banner Genozid vor der Georgioskirche im Grüneburgpark
Auch wenn man der pontischen Sprache (ein Dialekt, der sich direkt aus dem Altgriechischen entwickelt hat) nicht mächtig ist, so kann man die tiefe Traurigkeit dieser leidvollen Lieder sehr gut mitempfinden. Dahinter kommt eine kleine Delegation, die das große Banner "Genozid - 100 Jahre nach dem Genozid der Griechen aus Pontos 1919-2019" vor sich her trägt. Dahinter, mit etwas Abstand, trägt eine junge Frau einen aus roten und weißen Nelken geflochtenen Kranz mit der magischen Zahl 353.000 auf einem weißen Band. So viele Pontosgriechen sind nach einer Schätzung von den Türken damals massakriert worden. Die junge Frau wird von einem jungen Mann begleitet, der die griechische Flagge trägt. Und dahinter kommt die große Masse an schweigenden Demonstranten. Ein imposanter Block, der von den Männern angeführt wird, die die Wimpel der einzelnen pontischen Vereine (Φραγκφουρτη, Οφφενμπαχ & Περιχωρων, Μαινταλ, Wiesbaden-Mainz & Περιχωρων, Griesheim & Περιχωρων etc.) tragen. Ab dem Grüneburgweg gesellt sich auch Maria Zissi, die Generalkonsulin von Griechenland hier aus Frankfurt, dem Schweigemarsch, und marschiert an vorderster Front mit. Ein Pontosgrieche meinte zu mir, dass das eine große Ehre für die Pontosgriechen sei.
Vor dem Römer, Michael Erhardt und Alkis Papavramidis
Der Schweigemarsch endet vor dem Rathaus am Römerberg. Die Träger mit dem Banner und den Wimpeln platzieren sich kraftvoll auf der Treppe zum Rathaus. Es beginnt zunächst ein munteres Fotografieren und Filmen der vor allem japanischen Touristen. Sie sind ja auch sehr farbenfroh gekleidet, die vielen jungen Pontosgriechinnen in ihren traditionellen Trachten. Nach den einleitenden Worten von Alkis Papavramidis, dem Vorsitzenden des Vereins der Griechen aus Pontos in Frankfurt e.V., spricht Michael Erhardt, der Vorsitzende der IG Metall Frankfurt am Main, auch im Namen der Partei "Die Linke". Er war heute gerade auf der größeren Demo für ein vereintes, friedliches Europa gewesen. Sie war mit 14.000 Teilnehmern wohl zwanzig mal so groß wie die ca. 700 Teilnehmer dieses Schweigemarsches. Er stellt die Parallele bzw. Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Demonstrationen her. Es sei wichtig, allen Flüchtlingen zu helfen. Da nimmt er die Pontosgriechen damals nicht aus. Dem griechischen Staat, der seinerzeit um 25 Prozent an Bevölkerung zugenommen, und das auch geleistet hat, zollt er seinen Respekt. Herr Erhardt bezeichnet das als Unverschämtheit, was Erdogan heute zu diesem Tag gesagt hat: Dass es sich um einen Befreiungskrieg gehandelt haben soll. Er verkehrt damit Täter und Opfer. Als nächstes spricht Konstantinos Evangelidis auf Griechisch, ein Offizier der griechischen Armee, der im Hauptquartier der US-Heeresstreitkräfte in Europa in Wiesbaden arbeitet. Er spricht hier aber als Privatperson, also als Grieche. Er sagt über seine Erfahrung mit dem heutigen Schweigemarsch: "Manchmal ist der Sound der Stille viel lauter als das Geräusch von vielen Worten".
Zum Abschluss spricht eine Frau vom Verein der Völkermordgegner e.V. Frankfurt. Sie erinnert an zahlreiche Genozide, die man alle nicht vergessen darf. Die Abschlussworte hält Alkis Papavramidis, der meint, er sei etwas unzufrieden. Aber in einem Jahr sollten es bei diesem Schweigemarsch einige Leute mehr sein. (Text und Fotos: Peter Oehler)