Unsere Reise führte im ersten Teil nach Falassarna und zum Balos Beach im äußersten Nordwesten der Insel, der stark unter Over-Tourism, also touristische Überlastung, leidet. Ähnlich ergeht es unserem nächsten Ziel, dem Elafonissi Beach. Aber auch stille Dörfer liegen an unserer Strecke, in denen das alte Kreta noch lebendig bleibt.
Von Platanos, dem Dorf oberhalb von Falassarna, schlängelt sich die gut ausgebaute Straße 14 Kilometer durch die Bergeinsamkeit bis nach Sfinari. Oleanderhecken säumen nicht nur das Asphaltband, sondern säumen auch die vielen unterirdischen Wasseradern an den Hängen. Der großartige Ausblick auf die Westküste hat einen Einheimischen dazu veranlasst, neben einen der vielen Bilderstöcke am Straßenrand eine ausgediente Sitzbank aus einem Linienbus aufzustellen: kretischer Ideenreichtum.
Uriges Sfinari
Dann kommen wir ins Dorf Sfinari, dessen Ortskern etwas oberhalb des Meeres am Hang liegt. Wir halten auf einen Kaffee an der Taverne „O Georgakas“ und finden uns schlagartig in einem Ambiente wieder, wie es heute nur noch selten in Griechenland zu finden ist. Auf der Terrasse sitzt ein deutsches Paar, das in einem der wenigen Zimmer der Taverne übernachtet hat, beim Frühstück. Wände und Pfeiler der Terrasse sind mit zahlreichen Meeresschneckengehäusen dekoriert, alte Patronengürtel hängen herum. Die Autoschlüssel des Wirts liegen auf einer mit Orangen gefüllten Schale herum, überall ist das Spielzeug der vier Kinder der Inhaberfamilie verstreut. Vor der offenen Küche stehen verschiedene Fischwaagen, in einer Ecke liegen Fischernetze herum. Da steht auch eine Nähmaschine zum Flicken der Netze. Ein großer Kessel dient zur Herstellung von Joghurt und Frischkäse aus Schafs- und Ziegenmilch. Der Raum neben der Küche ist Wohnzimmer der Familie und Lobby für Gäste zugleich. Der Fernseher läuft hier den ganzen Tag, ohne dass ihn jemand beachtet. Das Ofenrohr, das sich durch den ganzen Raum zieht, zeugt von kühlen Wintertagen.
Schön leer: der Strand von Sfinari
Phidias der Fischer
Nachdem wir zwei Euro für unseren Frappé bezahlt haben, fahren wir hinunter zum Strand. Unter vielen alten Tamarisken stehen Palmstrohschirme auf dem grobsandig-kieseligen Strand. Die Liegen darunter zu nutzen, ist kostenlos. Auch die wenigen Fischtavernen am Ufer haben ihre Tische und Stühle unter Tamarisken gestellt. Jede der Tavernen bietet kostenfrei Duschen an, bei fast allen darf man kostenlos campen. Das haben wir auf Kreta schon lange nicht mehr gesehen. Wir kehren des klangvollen Namens wegen in der Fischtaverne „Phidias“ ein. Sie ist allerdings nicht nach dem Schöpfer eines der zwölf Weltwunder der Antike benannt, der Statue des Zeus in Olympia, sondern trägt den Vornamen des Fischers, der sie vor 45 Jahren als erste Taverne vor Ort gegründet hat. Heute gehört sie seinen vier Söhnen, die alle auch Fischer sind. Die Familie besitzt zwei Kaϊkia. Auf ihnen arbeiten zwei der Söhne und während der Sommersaison zwei Gastarbeiter. Die beiden anderen werden dann am Grill gebraucht, denn an Sommerwochenenden und den ganzen August über sind Tavernen und Strand voll von Kretern aus den Städten. Wir waren im Juni an einem Werktag da und blieben den ganzen Tag über die einzigen Ausländer im Ort.
Ein Esel an der Bar
Bevor sich die Straße weit hinter Sfinari für eine Weile von der Westküste abwendet, veranlasst uns eine große griechische Flagge zum Halten. An hohem Mast steht sie auf einem ganz kurzen Skywalk über dem Steilabfall zur Küstenebene hin vor dem Ortseingang von Amigdalokefali. Wirt Manolis hat sie neben seiner schlichten „kantina“ gehisst, die er nach seiner Tochter „Petroula’s Bar“ taufte. Seine Spezialitäten sind frisch gepresster Orangensaft und kleine Souvlakia, die auf einem einfachen Grill unter einer Dunstabzugshaube liegen, die nach alter Manier mit Banknoten aus aller Herren und Damen Länder verziert ist. Die eigentliche Hauptattraktion aber neben dem faszinierenden Ausblick vor allem die tierischen Gäste in der Bar: eine Eselin, die sich gern füttern und streicheln lässt, und diverse kleine Hunde, die liebend gern auf Gästeschößen sitzen.
Stammgast in Petroulas Bar: der Esel des Wirts
Touristisches Getümmel
Von nun an geht es für kurze Zeit landeinwärts. In Kefali stoßen wir auf die Straße, die von der Nordküste an den Elafonissi Beach führt. Ist uns bisher höchstens alle fünf Minuten ein Auto begegnet, reihen wir uns nun in eine schier endlose Autoschlange ein. Elafonissi ist neben dem Balos Beach im äußersten Nordwesten der zweite touristische Hotspot an Kretas Westküste. Tagesausflügler kommen sogar aus den über 200 Kilometer und dreieinhalb Stunden reine Fahrzeit entfernten Badeorten bei Iraklio hierher, als gäbe es sonst keine schönen Strände auf der Insel. Tripadvisor & Co sorgen dafür. Anders als der Balos Beach ist der Elafonissi Beach direkt mit dem gemieteten Fahrzeug zu erreichen. Hier gibt es mehrere Unterkünfte und Tavernen und damit zumindest ein Toilettenangebot, wenn das auch bei weitem nicht jeder nutzt. Der kilometerlange, wenn auch schmale Strand hier ist am Ufer und im Wasser wirklich feinsandig. Badeschuhe braucht man höchstens, um sich im Pudersand nicht die Fußsohlen zu verbrennen. Außerdem fällt das Meer hier ganz kinderfreundlich sanft ab; man kann meist sogar zum Inselchen Prassonissi hinüberwaten, wo weitere gute Strände auf die Besucher warten.
Besonders fotogen ist auch die Strandfarbe am Ufersaum: Der schimmert streifenweise ganz rosa. Ganz fein gemahlene Muschelschalen und Korallenbruchstücke geben ihm diesen Farbton.
Vom Strand ins Kloster
Unser Fazit: Elafonissi lohnt immer noch einen Besuch – aber nur, wenn man hier auch übernachtet. Dann teilt man den Südseetraum bis morgens um 10 und ab abends um 17 Uhr nur mit sehr wenigen Pensionsgästen und einigen wilden Campern und kann nachempfinden, warum Elafonissi so berühmt geworden ist. Außerdem hat man dann auch Zeit, das nur vier Kilometer entfernte Dorf Chrissoskalitissa und das gleichnamige Kloster aus dem 17. Jahrhundert zu besuchen. Das thront blendend weiß auf einem niedrigen Fels und birgt ein kleines Heimatmuseum sowie eine Geheimschule der Christen aus der Zeit der osmanischen Herrschaft über die Insel. Zum Kloster hinauf führen 98 Stufen. Eine fehlt: Die goldene Stufe, die dem Kloster den Namen gab. Sie ist nur für den sichtbar, der ohne Sünde ist – also für niemand.
Kretischer Abschluss
In Elafonissi oder Chrissoskalitissa zu übernachten, hat noch einen weiteren Vorteil: Man kann morgens zur Rückfahrt an die Nordküste aufbrechen. Dann hat man freie Fahrt und kann die Menschen in der entgegenkommenden Autoschlange nur bedauern. Außerdem hat man Zeit, mittags in einer der urigsten Gartentavernen Kretas einzukehren: „O Archontas“ in Katsomatados gleich südlich der Topolia-Schlucht. Das winzige Dorf unterhalb der Hauptstraße wird fast nur noch im Sommer bewohnt, aber die stattlichen alten Häuser wurden in den letzten Jahren fast alle von ihren Erben restauriert. Sie wohnen allerdings nur in den Ferien darin, leben in Athen, Thessaloniki, Australien oder anderswo auf der Welt. Nur Vassilis Deroukakis hält hier ganzjährig mit seiner Frau die Stellung. Er vermietet sechs schlichte Zimmer vor allem an Wanderer und wartet in seiner Taverne geduldig auf Gäste, die meist an Wochenenden kommen, wenn nicht gerade wieder eine griechische Rentnergruppe bei ihm einkehrt. Auf seiner Terrasse sitzt man unter Maronen- und Walnussbäumen. Auch im Garten stehen zwischen den vielen Obstbäumen Tische und Stühle in weitem Abstand. An den Früchten dürfen sich die Gäste frei bedienen: Je nach Jahreszeit hängen Aprikosen, Maulbeeren, Mandarinen, Birnen und Nüsse daran. Auf der Karte stehen auch seltene ländliche Gerichte, die in den Touristenrestaurants an den Küsten längst in Vergessenheit geraten sind – Auberginen mit Kartoffeln und dem Weizenschrot trachana zum Beispiel oder warme Chorta (Wildkräuter) mit Tomaten und Kartoffeln. Die Karaffe Raki nach dem Essen geht, wie in Kreta fast überall üblich, aufs Haus. Wer danach müde wird, kann erst einmal in einer der Hängematten im Garten eine Runde schlafen. Das ist kretische Gastfreundschaft pur, von der man an den touristischen Hotspots nur träumen kann.
Bei Wirt Vassilis in Katsomatados ernten die Gäste ihren Nachtisch frisch vom Baum
Text und Fotos von Klaus Bötig
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 848 am 9. November 2022.