In der einzigartigen Zagori-Region im nordwestlichen Epirus findet man Ruhe oder auch Vitalität – je nach dem, wann man sie besucht. Die Anzahl der Wanderwege dort ist schier endlos: Sie führen hinauf in die Berge, hinunter zur Vikos-Schlucht oder am Voidomatis-Fluss entlang.
Wir sind jetzt zum zweiten Mal hier, in der atemberaubend beeindruckenden Bergregion Zagoris im Nordwesten des Epirus. Mit einer Vorliebe für abgelegene, ruhige Örtchen haben wir uns erneut im zauberhaft schönen Bergdorf Mikro Papingo einquartiert. Übrigens: Alle an einer Hand abzählbare Unterkünfte sind empfehlenswert, und das hiesige luxuriöse Wellness Hotel wurde für sein einzigartig angelegtes Spa und den fantastischen Blick auf die Vikos-Schlucht gar mehrfach ausgezeichnet. Wir sind die ganze Woche über zum Wandern hier und haben uns für eine Hotelpension mit kleineren Zimmern entschieden. Beim Öffnen der Tür entfährt mir ein Ausruf der Begeisterung, über den der Herbergenbesitzer Nikos amüsiert lächelt. Das Zimmer ist urgemütlich, es hat einen Kamin, neben dem Holzscheite bereit liegen. Die Wände, die rustikalen Möbel und die holzverkleidete Decke sind in zartgrünen Tönen gehalten, die Läden lassen sich wegen der Wetterbedingungen in dieser Gegend von drinnen verschließen. Die dem optimalen Wärmehaushalt angepassten kleinen Fenster sind innen mit bestickten Gardinen und nach außen hin mit Gitterstäben versehen.
Übergroße Weintrauben über dem Kopf
Alle Häuser und Dächer im Dorf sind aus Stein erbaut, in den oft talwärts abfallenden, fruchtbaren Gärten sind Gemüsebeete und Blumenstauden angelegt. Das Dorf Papingo sowie die anderen Dörfer in dieser Bergregion werden, nicht ohne Stolz, renoviert und bestens instand gehalten. Das war nicht immer so, erzählt uns Nikos, als wir im ummauerten Innenhof mit seinen Bäumen, dem üppigen Hortensienbusch und zig wohlgenährten Katzen an einem der massiven Holztische sitzen. Von dem von einer Schlingpflanze umrankten Laubdach hängen unzählige Kiwifrüchte wie übergroße Weintrauben über unseren Köpfen. Uns gefällt alles hier: der steinerne Hof, das deftige, den Wanderer wohlnährende Frühstück und die köstliche, regionale Hausmacherküche. Es gibt Hähnchen in Avgolemono-Sauce (Eier-Zitrone), Rindsragout in Tomatensauce, Fleischsuppe und überhaupt die besten Salate – sei es Marouli, Politiki, Rucola oder Rote Bete. Die knackige Frische und Qualität sind in hiesigen Bergdörfern vom Feinsten!
(GZek)
Winters stirbt das Dorf
Papingo bezeichnet gleich zwei Dörfer, die zwei Kilometer voneinander entfernt liegen: Megalo Papingo und Mikro Papingo, Groß- und Klein-Papingo also. Sie kann man über teilweise spektakuläre Serpentinenstraßen von der epirotischen Hauptstadt Ioannina aus erreichen. Nikos erzählt uns, dass die Leute erst dann begannen, die Dörfer mit ihrem traditionellen Aussehen und ihrer Architektur wieder zu verschönern, als mehr und mehr Besucher kamen. Rund um Groß- und Klein-Papingo gibt es zahllose Wanderwege, die hinauf in die Berge und hinunter zur Vikos-Schlucht führen; es gibt Wanderwege am Voidomatis-Fluss entlang, und es gibt Rafting. Vor dem florierenden Gästeaufkommen waren die Dörfer dem Verfall preisgegeben, weil die jüngere Generation wegzog und zum Arbeiten in die Städte abwanderte – was immer noch der Fall ist. Winters leben etwa zehn Bewohner ständig in Mikro Papingo. In einem größeren Umkreis gibt es keine Schulen oder sonstige, für eine Dorfgemeinschaft übliche und notwendige Einrichtungen. Für junge Leute mit Kindern, die eventuell beabsichtigten, wieder hier zu leben, stellte die fehlende Infrastruktur dementsprechend unüberwindliche Schwierigkeiten dar.
(GZek)
Gäste-Run zu Feiertagen
Die Schönheit der Orte und die damit einhergehende Attraktion für Besucher sind ein zweischneidiges Schwert: Sie fördern einerseits den Wiederaufbau der Dörfer und andererseits bescheren sie den Dörfern eine Dosis an „Overtourism“. Wir können das während unseres einwöchigen Aufenthalts hautnah miterleben. Von Montag bis Donnerstag gibt es nur wenige Besucher, weshalb bis auf die zwei Geschenkläden und ein, zwei Tavernen alle Lokale in Megalo Papingo geschlossen sind. Dann aber kommt der 28. Oktober, der Ochi-Tag, ein Nationalfeiertag. In der Zagori-Region wurde besonders heftiger Widerstand gegen den faschistischen Diktator Mussolini geleistet, der Athen 1940 ein Ultimatum stellte. Heute wälzt sich zum Nationalfeiertag ein Besucherstrom mit Unmengen von Fahrzeugen in das alpine Gebiet. Wenn man es ruhiger haben möchte, besucht man Zagori demzufolge am besten außerhalb von Feiertagen. Trotzdem macht es Spaß, nach einer gemächlichen und leisen Woche so viele Menschen in den Lokalen mit Aussicht auf die phänomenale Gebirgslandschaft anzutreffen. Die Einheimischen tauchen in allen Altersklassen auf – ältere und jüngere Paare, befreundete Familien, oft mit großer Kinderschar. Die Besucherschaft ist international geprägt. Es wird russisch gesprochen, italienisch, albanisch, englisch, auch kommen hier wegen der Rafting-Möglichkeiten viele junge Leute aus aller Welt zusammen.
Am Feuer Hühnchensuppe löffeln
Am Eingang zu Mikro Papingo gibt es neben dem Friedhof mit seinen wenigen Grabsteinen einen Parkplatz unter steinalten Baumkronen. Dort werden Pferde mit Verpflegungsmitteln gesattelt, die vom Dorfkern Papingos aus zu einer Berghütte hinauf transportiert werden. Wir kommen ganze vier Tage lang in den Genuss eines Indian Summers – mit Gebirgswäldern, deren Laub in gelben, roten und orangefarbenen Tönen leuchtet. Und dann ist es vorbei mit dem Sonnenschein. In wenigen Minuten ziehen dräuende Wolkengebilde auf und verhüllen die Berggipfel. Es wird feucht und kalt. Das junge Paar aus Patras, das sich vor einer halben Stunde mit Rucksack und in dicken Wanderschuhen zur Berghütte aufmachen wollte, ist zurückgekehrt. Und erkundigt sich, ob in der Pension noch ein Zimmer frei ist. Der ebenfalls von den Pferden eingeschlagene, mehr als vierstündige Marsch auf dem steil ansteigenden Bergpfad wird im Regen zu gefährlich. Von Donnergrollen und Blitzen begleitet, lässt der Dauerregen, der die ganze Nacht über anhält, den Fluss, wie wir am Morgen sehen werden, mit schlammfarbenem Gewässer anschwellen. Gut, dass wir heute früh bei Sonnenschein zur Vikos-Schlucht hinabgestiegen sind. Gut, dass wir jetzt zu gerösteten Brotscheiben eine Hühnchensuppe löffeln. Gut, dass der Weg vom Suppenteller uns über die hölzerne Haustreppe stracks in die warme Stube führt. Weil es früh am Abend ist, und weil es für weitere Abenteuer zu stark regnet – zudem ist die Elektrizität längst in beiden Papingos ausgefallen –, kommt die Köchin mit einem Krug Rotwein und zwei Gläsern an unseren Tisch. Die sollen wir mit aufs Zimmer nehmen und es uns gut gehen lassen.
Text von Linda Graf
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 899 am 22. November 2023.