Der Sommer, er findet kein Ende
Etwa 300 Kilometer sind es bis zur libyschen Küste. Viel südlicher geht es nicht in Griechenland. Es ist Herbst, und wenn die Sonne auf Kreta, der größten Insel, scheint, dann wird es nicht warm, sondern sogar richtig sommerlich heiß. Das kretische Meer hat hier immer noch 22 Grad. In Rethymno an der Nordküste Kretas, wo an etwa 300 Tagen im Jahr die Sonne scheint, geht der Sommer einfach weiter.
Vor vielen Jahren waren wir schon einmal im kleinen Badeort Matala im Süden Kretas, bekannt für seine jungsteinzeitlichen Wohnhöhlen. Nun haben wir uns für den Norden entschieden. Fast vier Wochen sind wir in Rethymno, haben ein Apartment mit Balkon im gepflegt-sympathischen „Palazzo Fortezza“ gemietet, in der von Drillingsblumen umrankten Chimaras-Gasse mitten in der Altstadt, aus der sich in dieser Jahreszeit die Touristen weitgehend zurückgezogen haben.
Der eindrucksvolle Leuchtturm im Hafen
Wo auch Einheimische gern speisen …
Jede Menge südgriechisches Leben gibt es auch jetzt zu erfahren: Die Stadt ist lebendig – gerade abends sind die vielen Restaurants, Tavernen und Bars, die romantisch beleuchteten Plätze und Gassen auffallend gut gefüllt. Die Wirte decken selbstverständlich draußen, wie etwa in der kleinen, einfachen Taverne „2Rou“ in der Koroneou Panou-Gasse: ein Traditions-Ort, wo auch die Einheimischen gerne speisen und Raki trinken. Ein wenig feiner, aber dennoch gemütlich, geht es bei Vassilis in der Chiamaras-Gasse zu, wo kretische Küche elegant aufgepeppt wird.
Der historische Kern der 34.000-Einwohner-Stadt, vor allem die Gassen jenseits der zwei größeren Flaniermeilen, nehmen den Besucher sofort gefangen: ein Gewirr aus engen Sträßchen, das sich gelegentlich zu Plätzchen und Plätzen öffnet, viele orthodoxe Kirchen, kleine Geschäfte, alte Bäckereien, Schafsmilch-Eisdielen, Läden für kretisches Olivenöl und Stoffe, Restaurants, Raki-Bars und Tavernen, überall Blumen, Pflanzen und Bäume, manches hervorragend und immer geschmackvoll renoviert, an anderen Stellen bröckelt der Putz noch auf charmanteste Art.
Widerstand gegen die Osmanen 1866: Das „Märtyrer-Kloster“ von Arkadi
Bedeutende Museen und Ausstellungen
Bedeutende Wechselausstellungen zeigt mitten in der Altstadt das Museum für zeitgenössische Kunst von Kreta. Das Museum beherbergt aber auch eine ständige Sammlung mit etwa 500 Werken zeitgenössischer griechischer Künstlerinnen und Künstler. Noch zwei weitere bedeutende Museen gibt es: das Historische und Folklore-Museum von Rethymno, das sich in einem venezianischen Gebäude aus dem 17. Jahrhundert befindet, und das Archäologische Museum der Stadt, das seinen Sitz eigentlich vor dem Eingang zur Fortezza hat, das aber derzeit renoviert wird. Eine Auswahl der Exponate ist daher in der ehemaligen Kirche San Francesco in der Altstadt zu sehen, wie etwa die spätminoischen Ton-Sarkophage aus den Grabungen des Friedhofs von Armeni.
Auf den Spuren der Geschichte
Rethymno, ehemals eine minoische Siedlung, in der Antike ein autonomer Stadtstaat, liegt in seinem Kern auf einer Halbinsel und ist nach Iraklio und Chania die drittgrößte Stadt der Insel – und auch Universitätsstadt, was man sieht, wenn man abends durch die Gassen streift. Die Jugend geht gerne aus. Die Geschichte hat ihre Spuren hinterlassen: Die Zeugnisse der venezianischen und türkischen Herrschaft mischen sich mit der späteren griechischen Architektur des frühen 20. Jahrhunderts zu einem mediterranen Miteinander, wie man es sich schöner nicht denken kann.
Dabei ist die Altstadt nicht klein: Man kann Stunden damit verbringen, Gassen zu entdecken, auf verschlungenen Wegen die historische Stadt zu erkunden – ein Erlebnis, das stark an Venedig erinnert. Kreta stand tatsächlich mehr als vier Jahrhunderte unter venezianischer Herrschaft und brachte keinen geringeren als Domenikos Theotokopoulos alias El Greco hervor – und so hat die venezianische Renaissance ganz im Süden Europas vor der libyschen Küste deutliche Spuren hinterlassen.
Rethymno, das sich noch heute als geistiges Zentrum Kretas definiert, erlebte seine Blüte unter der Herrschaft des norditalienischen Handelsimperiums. Für die Serenissima war Kreta über mehrere Jahrhunderte ein bedeutender Stützpunkt. Das sieht man besonders eindrucksvoll in Rethymno: in der Stadtanlage, am kleinen pittoresken Hafen mit seinen Fischerboten und dem Leuchtturm, in großen Profanbauten wie der Loggia des Architekten Michele Sanmicheli aus dem 16. Jahrhundert. Aber auch an vielen prächtigen Palazzi, Portalen oder Brunnen wie dem Rimondi-Brunnen, der 1623 durch den venezianischen Adligen Alvise Arimondi gestiftet wurde.
Doch an vielen ehemals venezianischen Häusern finden sich auch osmanische Portalinschriften oder die typischen osmanischen Erker aus Holz – die seit dem 17. Jahrhundert im Zuge der türkischen Herrschaft angebaut werden. So wurden aus venezianischen Wohnpalästen mit Renaissanceportalen schließlich osmanische Wohnhäuser – ein architektonisch wunderbares venezianisch-orientalisches Miteinander. Von dieser so besonderen, multikulturellen Geschichte der Stadt erzählt der 1909 in Rethymno geborene bedeutende Autor Pandelis Prevelakis in seinem Buch „Die Chronik einer Stadt“, das bis heute das bedeutendste literarische Zeugnis Rethymnos ist.
Symbiose in Blau und Weiß von Holz und Beton
Ende der kretischen Renaissance
Es waren auch Venezianer, welche im 16. Jahrhundert die „Fortezza“ bauten, die monumentale Festung mit ihren Halbbastionen, die Rethymno überragt. Man hat von hier oben einen schönen Blick auf die Altstadt und den ebenfalls venezianischen Hafen und die zu einem ganz kleinen Teil noch erhaltene Stadtbefestigung mit der Porta Guora, die ebenfalls aus dem 16. Jahrhundert stammt. Im Zentrum der Fortezza erinnert die Sultan-Ibrahim-Moschee an die türkische Zeit – eine Umwidmung der ehemaligen katholische Hauptkirche San Nicolo. Ein weiteres großes ehemaliges Moschee-Gebäude in der Altstadt – in türkischer Zeit gab es acht Moscheen – ist die Neratzes-Moschee, die heute als Ort für Veranstaltungen dient. Auch sie war ursprünglich eine venezianische Klosterkirche, die 1657 in eine Moschee umgewandelt und mit einem 40 Meter hohen Minarett versehen wurde.
Zuerst kam die venezianische, dann die osmanische Fremdherrschaft, welche die „kretische Renaissance“ beendete: Es dauerte lange, bis Kreta frei war: Erst 1913 wurde die Insel mit Griechenland vereinigt. Die muslimische Bevölkerung der Turkokreter wurde noch 1923 zwangsumgesiedelt, „Bevölkerungsaustausch“ ist ein zu schwaches Wort – dafür kamen viele griechische Flüchtlinge aus Kleinasien. Fast keiner der türkischen Kreter wollte seine Heimat verlassen – Prevelakis beschreibt diesen Heimatverlust eindringlich und voller Anteilnahme in seinem Buch.
Karge Berglandschaft nahe der kretischen Stadt Rethymno
Ölbäume – soweit das Auge reicht
Viele Touristen kommen im Sommer, um hier zu baden. Und dafür ist auch genug Platz, denn Rethymno hat hinter dem neuen Hafen aus den 1970er Jahren nach Osten hin einen mehrere Kilometer langen Sandstrand voller Hotels und Apartmenthäuser, der jetzt im November beinahe vollkommen verwaist ist. Aber ein paar Sonnenhungrige gibt es immer, und zum Glück stehen noch einige Sonnenliegen im Sand, um die sich niemand mehr kümmert – und für die man nicht mehr bezahlen muss.
Und die Stadt liegt perfekt, um einen guten Teil der Insel zu entdecken: 60 Kilometer östlich lieg Kretas etwas unwirtlich wirkende Hauptstadt Iraklio mit dem internationalen Flughafen und der bedeutenden archäologischen Ausgrabungsstätte Knossos mit ihrem minoischen Palast – und 45 Kilometer westlich befindet sich das pittoreske Chania, dessen großer venezianischer Hafen und die Altstadt zweifellos ein weiterer Höhepunkt jeder Kreta-Reise sind. Man erreicht alles bequem mit dem Bus. Der Busbahnhof von Rethymno liegt zentral neben der Altstadt direkt am Meer, von hier gehen die Busse in alle Richtungen – etwa auf verschiedenen Passstraßen auch an die Südküste, ans Libysche Meer mit kleinen Badeorten wie Agia Galini oder Plakias.
Das direkte Umland ist karg, schroff und felsig. Hinter Rethymno, das sich seit den 1950er Jahren aus dem Bereich der ehemaligen Stadtbefestigung mehr und mehr ausbreitet, geht es gleich in die Berge, die bis etwa 900 Meter ansteigen. Mit einem Kleinbus – meistens herrlich beschallt mit griechischer Popmusik – kann man vom Busbahnhof in etwa 45 Minuten zum südlich gelegenen Kloster Arkadi fahren, das im Jahr 1866 zum Ort des kretischen Widerstands gegen die türkische Herrschaft wurde. Man passiert Felslandschaften, dann fruchtbare Täler und Weinberge, vor allem aber dominiert der Oliven-Anbau. Ölbäume, wohin man auch blickt.
Teile der venezianischen Festungsmauer
Widerstand gegen Fremdherrschaft
Eine Massenopferung soll sich hier im Arkadi-Kloster zugetragen haben. Früher zierte das Kloster sogar den 100-Drachmen-Schein. Schon die venezianische Basilika aus dem 16. Jahrhundert ist sehenswert, doch vor allem die Ereignisse des Jahres 1866 sind im ganzen Land in Erinnerung geblieben. Das Kloster war eine Widerstands-Bastion gegen die türkische Herrschaft, das von einem 15.000 Mann starken osmanischen Heer angegriffen wurde. Die etwa 1.000 Menschen im Kloster sollen sich im Pulvermagazin selbst in die Luft gesprengt haben, um nicht in türkische Gefangenschaft zu geraten.
Widerstand liegt den Kretern im Blut – und artikulierte sich nicht zuletzt im Zweiten Weltkrieg im erbitterten, auch von Frauen mit einfachsten Waffen geführten Kampf gegen die deutsche Besatzungs- und Gewaltherrschaft. Mikis Theodorakis, geboren 1925 auf Chios, war einer der Partisanen. Der Musiker und Sohn eines Kreters gründete sein erstes Orchester in Chania. Der Kreter an sich, so der bedeutendste kretische Autor Nikos Kazantzakis, ist der geborene Freiheitskämpfer. Das thematisiert der 1883 in Iraklio geborene Autor in Büchern wie „Alexis Sorbas“ oder auch „Freiheit oder Tod“. Er hat diesen Teil des kretischen Wesens wohl wie kein anderer beschrieben – voller Faszination und Sympathie.
Vor der Stadt locken breite Sandstrände.
Kulinarische Köstlichkeiten
Noch einige Kilometer weiter mit dem Bus geht es dann ins Töpferdorf Margarites, wo mehrere Tavernen zu kretischen Gerichten einladen. Gelegentlich wird man in die Küche gebeten, um die Speisen vor Ort auszusuchen: Der Tomaten-Zwieback-Schafskäse-Salat Dakos ist eine Köstlichkeit, die mit reichlich Olivenöl genossen – 16 Millionen Ölbäume soll es auf Kreta geben – den Anfang eines Essens machen kann. Weitere ganz typische Gerichte sind Schweinefleisch in Zitronensoße, das Wildgemüse Stamnagáthi, das man mit Zitrone und Olivenöl beträufelt, der Mizythra-Weichkäse, Apaki, das geräucherte und marinierte Schweinefleisch, Tintenfisch mit Fenchel und Oliven – oder auch die mit Rosmarin und Wein angebratenen Schnecken. Den Abschluss bildet naturgemäß ein oder mehrere Gläschen Raki, der griechische Tresterbrand, der im Unterschied zum türkischen Raki kein Anis enthält.
Am Nachmittag fährt uns der Bus wieder nach Rethymno. Auf dem Weg stellt sich uns eine Herde von Schafen in den Weg. Gleich kommen auch noch einige Ziegen dazu – ein schönes, bereits gewohntes Bild.
Doch es gibt noch vieles mehr zu sehen in der Region. Phaestos etwa, hinter Agia Galini im Süden der Insel, über der Messara-Tiefebene gelegen, doch für einen Tagesausflug nicht zu weit von Rethymno entfernt, muss man unbedingt gesehen haben: die schönste erhaltene minoische Siedlung, die schon in der Präfektur Iraklio liegt. Kenner ziehen das landschaftlich überaus reizvoll gelegene Phaestos Knossos vor, das bis heute den Ruf eines „Disneylandes der Archäologen“ trägt. Abends sitzen wir dann wieder in unserem Stammlokal, dem „2Rou“ in der Koroneou Panou, freuen uns schon vor dem Essen auf den Raki danach – und auf die nächste Reise nach Kreta, die uns schon bald in den Osten, nach Agios Nikolaos führen wird.
(Text und Fotos: Marc Peschke)
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 706 am 18. Dezember 2019.