Kurz vor Einbruch des Winters machte sich unsere Autorin auf in die größte Region Griechenlands: nach Makedonien. Dort taucht sie ein in die ganz eigene Flora und Fauna dieses Landstrichs, in seine Farben und Gerüche. Erste Station in diesem zweiten Teil ihres Beitrages ist Edessa mit seinen zwölf Wasserfällen, das lange Zeit auch mit seinem slawischen Namen Vodena bekannt war: Beide Begriffe bedeuten in etwa „Wasserstadt“:
Während unseres Aufenthalts in der Region Zentralmakedonien besichtigen wir Edessa im Regionalbezirk Pella. Edessa wird Stadt des Wassers genannt, nicht nur aufgrund der in ganz Griechenland und in Europa einzigartigen Attraktion – den Wasserfällen mitten im Ort. Die ganze Stadt ist von Kanälen durchzogen, über denen – wie in Amsterdam – auf Schritt und Tritt Brücken erbaut sind. Im Park bei den Wasserfällen stelle ich mich in eine hohle, riesige Platane. Ein älteres Paar bleibt stehen, und der redselige Herr aus Edessa berichtet, dass dieser Baum 600 Jahre alt sei und dass in der Stadtmitte sogar eine 800-jährige Platane stehe.
Holzscheite neben dem Kamin
Da mehrere Flüsse durch Edessa fließen, nennen die Einwohner die Stadt auch kleines Venedig. Inmitten einer bewaldeten Landschaft gelegen könnte Edessa mit seinen vielen mit Bäumen gesäumten Straßen ebensogut Stadt der Bäume heißen. Von den Wasserfällen aus, um die herum außergewöhnlich hohe Eichen und Platanen wachsen, hat man eine wunderbare Aussicht auf die zentralmakedonische Ebene.
Von all dieser Schönheit beeindruckt bin ich daher auch nicht übermäßig enttäuscht, dass die Schleusen der 70 Meter in die Tiefe hinabstürzenden Wasserfälle just an diesem Morgen geschlossen sind, weil Mechaniker am Wassersystem arbeiten. „Heute ist nicht aller Tage Abend, ich komm wieder, keine Frage!“, sag ich mir – à la Pink Panther –, weil ich längst beschlossen habe, Zentralmakedonien ein zweites Mal zu besuchen.
Weil uns nur wenige Tage zur Verfügung stehen, lassen wir die warmen Heilbäder in der nahen Umgebung aus. Wir kommen voraussichtlich im Spätwinter wieder, wenn Schnee liegt und die Skigebiete geöffnet sind.
Edessa, von einem phrygischen/griechischen Wort abgeleitet, bedeutet genau genommen „Turm im Wasser / Wasserstadt“, und war bis ins 6. Jahrhundert v. Chr. die erste Hauptstadt des Königreiches Makedoniens und einstiges Zentrum der antiken makedonischen Kultur. Die kulturellen Einflüsse Edessas reichen von der Antike über Byzanz bis zur christlichen Epoche. Nach den Balkankriegen und der Beendigung der Osmanischen Herrschaft wird Edessa, das damals noch Vodena hieß, von griechischen Truppen besetzt und 1913 endgültig dem Königreich Griechenland zugeschlagen.
Um Edessa herum befinden sich unzählige Kirschbaumhaine und Brennholzbetriebe. Hier werden im Sommer Kirschen für ganz Griechenland und Europa gepflückt; im Winter sind die Häuser und Wohnungen gut geheizt. Meist verfügen die Hotelstuben, urgemütlich eingerichtet, über einen Kamin, in dem bereits die Holzscheite für ein schönes Feuerchen bereitliegen.
Einer der vielen Wasserfälle in Edessa
Köstlicher Wein in Naoussa
Naoussa ist etwa 30 Kilometer von Edessa entfernt. Die von Flüssen durchzogene, in der zentralmakedonischen Tiefebene gelegene Stadt zu Füßen des Vermio-Gebirges zeichnet sich generell durch ihre Landwirtschaft und den Anbau von Pfirsichen aus. Ein wichtiges wirtschaftliches Standbein ist auch Naoussas Weinanbau. Die Qualität der hier produzierten Weine ist vorzüglich, die Stadt nach der roten Rebsorte Mavros Naoussis benannt. In der Tiefebene zu beiden Seiten der Landstraße erstrecken sich die Weinberge, oder besser gesagt: die Weinebenen der Naoussa-Region. Wir fahren an vielen Domains vorbei, die aufgestapelten Kisten sind jetzt im Spätherbst leer, die Trauben lagern längst in den Kellern.
Um uns auf diesem schönen Flecken Erde die Beine zu vertreten, fahren wir in den Agios-Nikolaos-Park, kaum zwei Kilometer außerhalb Naoussas. Hier spazieren wir unter majestätisch hohen Laubbäumen, zwischen denen viele kleine Bäche und ein Fluss ihre Bahnen ziehen. Die Wasservögel lassen sich nicht von uns stören. Wir haben Hunger, auch dürstet uns nach einem der berühmten Naoussa-Weine. In der Zufahrt zum Parkplatz, einer bewaldeten Allee, setzen wir uns im Freien in einer der Tavernen an einen Tisch. Es riecht nach Laub und Erde, die Luft ist erfrischend kühl. Die Geräuschkulisse? Vogelgezwitscher und das Rauschen des Flusses. Heute lassen wir uns einen lokal produzierten blumigen Retsina munden, dazu Stockfisch mit Skordaliá (Knoblauchcreme) und einem pikanten makedonischen Kohlsalat. Übrigens verlassen wir den Park erst, nachdem wir mit dem freundlichen Tavernenbesitzer den Kauf einer Kiste mit dem auserlesenen Retsina ausgehandelt haben.
Auf Bergeshöhe in Agios Athanassios
Während unseres Aufenthalts in der Region Pella in Makedonien wird das wunderschöne Dorf Agios Athanassios zu unserer Basis, von dem aus wir jeden Tag die umliegenden Städte wie Edessa oder Naoussa besuchen. Eigentlich hatten wir uns vorgenommen, jede Nacht in einem anderen Ort zu verbringen, doch nachdem wir in einem der Steinhäuser in Agios Athanassios Herberge gefunden haben, wollen wir das Bergdorf nicht wieder verlassen. Der in der zentralmakedonischen Berglandschaft gelegene, ausschließlich aus Steinhäusern erbaute Ort liegt nördlich des Vegoritida-Sees.
Das Steinhäuserdorf Agios Athanassios erwachte aus einem Dornröschenschlaf
Wir sind zu einer Jahreszeit hier, in der der alljährlich einsetzende Schneefall nicht mehr lange auf sich warten lassen wird und die Region zu einem Skigebiet und das Dorf zu einer besonders zur Weihnachtszeit stark besuchten Destination macht. Jetzt geht es noch ruhig zu, wir finden im Nu eine Unterkunft, das Schlafzimmer ist eine schön eingerichtete, gemütliche Stube, in deren offenem Kamin die Holzscheite und Streichhölzer für ein Feuerchen bereitliegen.
Sonnenaufgang Sucht vom Plateau oberhalb von Agios Athanasios
Unabhängigkeit durch Eigenproduktion
Man vermutet, dass die ersten Häuser während der Osmanischen Herrschaft Ende des 16. Jahrhunderts von Bauern und Viehzüchtern errichtet wurden. Damals hieß das Dorf Tsegani. Die abgelegene Siedlung war aufgrund ihrer schwer zugänglichen Lage im Gebirge weitgehend autark, auch weil die Unabhängigkeit der Einwohner mit der damaligen, bis auf den heutigen Tag aufrechterhaltenen lokalen Produktion von Käse, Fleisch, Textilien aus Baumwolle, Schaffellen, Wein und dem beliebten Tsipouro gewährleistet war. 1981 zerstört ein Erdbeben die meisten Steinhäuser, weshalb viele Einwohner den Berg verlassen mussten und sechs Kilometer unterhalb das moderne, mit rechtwinklig verlaufenden Straßenzügen angelegte Dorf „Neu Agios Athanassios“ erbauten.
Kurz vor Sonnenaufgang gehe ich mit dem Hund nach draußen, weil ich mir das Farbschauspiel, das sich dem Auge hier bietet, nicht entgehen lassen möchte. Noch hängt Laubwerk an den bewaldeten Berghängen, die jetzt, in der aufgehenden Sonne, in glühend orangefarbenen Tönen aufleuchten; gleichzeitig blitzen die Fensterscheiben aller Steinhäuser wie von innen beleuchtet auf. Doch noch liegt das Dorf im Schlaf. Ein Spazierweg führt Rudi den Pudel und mich auf ein Plateau, von dem aus ich eine wahrhaft fabelhafte Aussicht auf die Berghänge rund um mich herum, auf die in der Ebene angelegten Obstbaumplantagen – Äpfel, Kirschen, Pfirsiche – und auf die Weingüter habe; auch auf den in der Ebene, in silberblauen Schattierungen liegenden Vegoritida-See vor in Nebelschwaden verhangenen Bergketten. Ich gehe auf Schiefergestein, das aufgrund des hohen Gehalts von Pyritsteinen funkelt und glitzert. Spärlich ist das Buschwerk hier oben auf dem Plateau, auf dem sich in dieser frühen Morgenstunde ebenfalls ein freundlich grüßender Dorfbewohner mit seinen drei Jagdhunden einfindet.
Schnabulieren lokaler Delikatessen
Mit der Erschließung des nur 13 Kilometer entfernten Skizentrums Kaimaktsalan, einem der größten Skigebiete Griechenlands, wird das Bergdorf wieder neu entdeckt und aufgebaut. Zerstörte Häuser werden restauriert und in traditionelle Gasthäuser, Cafés und Restaurants umgewandelt. Trotz der Errichtung zig neuer Steinhauskomplexe diverser Bauunternehmen hat sich das Dorf seine Schönheit bewahrt. Mit seinen steingepflasterten Gassen, der jahrhundertalten Kirche, den Straßenlaternen und liebevoll eingerichteten Wirtshäusern und Tavernen, der Gasse mit den Läden, in denen man Verpflegung, warme Mützen, Schnitzereien und Geschenke kaufen kann, ist Paläos Agios Athanassios einfach urgemütlich. Die Unterkünfte und die traditionelle lokale Küche sind hochwertig, die Einwohner aufgeschlossen, freundlich und redselig. Diese Qualitäten, nebst der Nähe zum Skigebiet, erklären den in Bälde einsetzenden, winterlichen Besucherstrom. Nach drei in Agios Athanassios verbrachten Nächten, dem Schnabulieren der lokalen Delikatessen und dem Genuss der vorzüglichen Weine und des Tsipouro sind uns einige der Einwohner bereits vertraut. Man begrüßt einander, bleibt auf einen Plausch stehen. Auf dem abendlichen Spaziergang durch das nach Holzfeuern duftende, mit Straßenlaternen erleuchtete Dorf bin ich bereits voller Vorfreude auf die lokale Küche, auf einen guten Tropfen und auf das Kaminfeuer – nach dem Abendessen – in der schönen Schlafzimmerstube.
Lokale Spezialitäten
(Griechenland Zeitung / Linda Graf)