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58 Stunden auf der heiligen Insel Patmos

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Foto (© GZkb) :Blick von Chora auf Skala. Foto (© GZkb) :Blick von Chora auf Skala.

Erst spät am Abend oder am sehr frühen Morgen am Ziel anzukommen, ist bei Fährschiffreisen in der Ägäis nichts Außergewöhnliches. Unsere „Blue Star“ macht zehn Minuten vor Mitternacht auf Patmos fest.

Kurz vor Mitternacht brodelt auf der Uferstraße des Hafenorts Skala Ende September normalerweise noch das frühe Nachtleben. Wegen des Corona-Virus aber herrscht absolute Flaute. Das Hafencafé ist gänzlich geschlossen, ebenso die größte Bar in einem alten Lagerhaus aus dem 18. Jahrhundert. Auf unserem kurzen Weg am Wasser entlang zum Hotel begegnet uns kein Mensch. An der Rezeption erwartet uns dann ein Maskierter – auch das ist ein Novum.

Bummel durch Skala

Am nächsten Morgen sitzen bei uns auf der Frühstücksterrasse dieses 45-Zimmer-Hotels noch drei weitere Ausländer. Einer ist Schweizer. Er komme schon seit sieben Jahren jeweils für mehrere Wochen hierher, erzählt er uns. Dieses Jahr genießt er seinen Aufenthalt besonders: Alle seine griechischen Freunde auf der Insel hätten viel mehr Zeit für ihn als sonst, die Straßen und Lokale seien sehr viel leerer. Er will diese Mußezeit nutzen, um endlich Griechisch zu lernen, und fragt mich, ob ich ihm eine Lehrerin auf der Insel empfehlen könne. „Ich kümmere mich drum“, verspreche ich ihm.
Wir bummeln los. Mit uns ist ein befreundetes Ehepaar unterwegs, das noch nie zuvor in Griechenland war. Am kurzen Weg zur Platia von Skala ist schon eine Autovermietung geöffnet. Im Vorübergehen frage ich das Vermieterpärchen, das entspannt vor der Ladentür sitzt, ob sie für morgen einen Wagen hätten. Sie nennen uns einen günstigen Preis und den Autotyp; wir sollen kommen, wenn wir ihn brauchen. Schon ist dieser Punkt auf meiner Agenda abgehakt.
Auf der Platia setzen wir uns ins Traditionskafenio „Houston“. Es wurde schon Ende des 19. Jahrhunderts als erstes Kaffeehaus im Ort gegründet. Seinen Namen erhielt es von einem späteren Pächter, der lange in Texas gelebt hatte. Heute wird es von zwei Akademikern geführt: Jannis aus Patmos und seinem Freund Alexis aus Kalavryta auf der Peloponnes. Da war er zuvor als Skilehrer aktiv. Der griechische Kaffee wird hier noch stilvoll auf einem Austrage-Tablett an den Tisch gebracht und im traditionellen briki serviert. Auf Wunsch wird er auch mit Rosenwasser oder Mastixharz aromatisiert. Da fühlt man sich fast wie zu Großmutters Zeiten.

LiveMusik mit Tsambouna Taverne Pantelis in Skala
Live-Musik mit Tsambouna_Taverne Pantelis in Skala

Bad unter Tamarisken

Nur mit den Augen rollen würde die giagia (= Oma) wahrscheinlich beim weiteren Bummel durchs Dorf. Boutiquen und Juweliere führen die teuersten griechischen und ausländischen Labels, sind jedoch immer gemütlich klein und werden von den Inhabern geführt. Auch der Tee- und Gewürzladen erreicht ein hohes Niveau; Weine, Schnäpse und Öle darf man hier auch schon am Vormittag verkosten. Gleich daneben betreibt Andrea aus Neapel seit fünf Sommern seinen Eissalon. Unsere Freunde, die sonst immer in Italien Urlaub machten, bestätigen uns, dass man auch in Italien selbst kein besseres Eis erhalten würde.
Nach dem Eis ist etwas Sportlichkeit gefragt. Über dem ältesten Viertel des Ortes ragt auf einem niedrigen Felsen die kleine Kapelle Agia Paraskevi aus dem 17. Jahrhundert auf. Sie wurde an der Stelle eines antiken Tempels errichtet. Von hier aus blicken wir über Skala hinweg auf die Chora, die an einem gut 200 Meter hohen Hügel das mächtige, wie eine Burg wirkende Johannes-Kloster umkränzt. Ihre weißen Häuser versprühen einen Hauch von kykladischer Atmosphäre.
Am Nachmittag wollen wir hinauf. Doch nach einem kleinen Mittagssnack steht jetzt erst einmal ein kurzes Bad in der langgezogenen Hafenbucht an. Der Strand gleich am Hotel ist zwar schmal und kieselig, aber genügt für ein kurzes Bad und ein paar Döseminuten im Schatten alter Tamarisken.

Die Sonnenuntergangs Panagias unterm Johanneskloster
Johannes-Kloster

In der Chora

Am späten Nachmittag will unser Freund den Mietwagen allein abholen. Als erfahrener Italien- und Spanienreisender ist er auf allerlei Formalitäten vorbereitet und auf den Versuch, ihm einige Zusatzversicherungen zu verkaufen. Nach fünf Minuten steht er mit einem Kleinwagen vor der Hoteltür. Der Vermieter hatte wieder mit Freunden plaudernd vor seinem Laden gesessen. Er notierte nur Eddies Führerscheindaten auf einem Schnipsel Papier, kassierte den Mietpreis, gab Eddie die Wagenschlüssel und erklärte ihm, wo der Wagen geparkt sei. Zusatzversicherungen pries er nicht an.
Wir steigen ein und fahren die vier kurvenreichen Kilometer zur Chora hinauf. Der in anderen Jahren viel zu kleine Parkplatz am Dorfeingang bietet diesmal viel Platz. Zwei Stunden bummeln wir durch die Gassen – und begegnen keinen anderen ausländischen Urlaubern. Auch auf dem Vorplatz der über 400 Jahre alten Panagia Diasosousan streichen nur ein paar Katzen zwischen den Palmen umher. Wir sind passend zum Sonnuntergang hier. Weil die Luft heute grandios klar ist, sehen wir Helios gleich neben dem fernen Naxos in der Ägäis versinken.

Sunset a la Chora
Sunset Chora

Kulinarische Überraschungen

Mit dem letzten Tageslicht gehen wir zur Platia der Chora weiter. Wo sonst zwei Tavernen für reges Treiben sorgen, steht heute kein einziger Stuhl draußen. Die beiden Tavernen sind schon für den Rest des Jahres geschlossen. Nur eine Bar wird später am Abend aufmachen. So gehen wir also weiter durch die engen Gassen, die teilweise engen Tunneln ähneln. Ins Kloster hinein wollen wir erst morgen. An einer Hauswand finde ich einen handgeschriebenen Zettel: Eine Einheimische bietet Griechischunterricht an. Ich notiere mir die Telefonnummer. Dann lassen wir uns in einer winzigen Taverne nieder. Gleich gegenüber hat ein Schmuckgeschäft geöffnet. Wir erkennen die junge Inhaberin von einem Besuch vor zwei Jahren her wieder, sie aber erinnert sich nicht an uns. Wir wechseln ein paar Worte mit ihr, bestellen unsere Drinks, bekommen wie üblich ein paar trockene Erdnüsse dazu. 15 Minuten später serviert uns der Wirt plötzlich einen gegrillten Oktopusarm und einen Teller voller Dolmades. Die Schmuckhändlerin hat sie für uns bestellt, weil, wie sie sagt, „man in Griechenland keinen Alkohol trinkt, ohne dazu etwas zu essen.“
Nun sind wir satt, können aufs Abendessen verzichten. Also fahren wir nach Skala hinunter, stellen das Auto ab und besuchen Katharina aus dem Harz in ihrer „Art Bar“. Auch bei ihr herrscht gähnende Leere. In anderen Jahren haben Yachturlauber und viele reiche Ausländer, die auf der Insel Häuser besitzen, bei ihr fast jeden Abend eine Party gefeiert. In diesem Jahr ist sie froh, wenn sie wenigstens ihre Kosten decken kann. Im Winter verdient sie übrigens in Deutschland in ihrem angestammten Beruf als Floristin ihr Brot. Gefragt, ob sie eine Griechischlehrerin auf der Insel kenne, gibt sie mir die Telefonnummer, die ich oben in Chora schon vom Zettel abgeschrieben hatte.

Apokalypse und Heilige Stätten

Beim Frühstück gebe ich diese Telefonnummer dem Schweizer Stammgast. Danach geht’s im Auto wieder Richtung Chora. Doch zunächst legen wir am Hang über Skala einen Zwischenstopp am Kloster der Apokalypse ein. Wir zahlen Eintritt und steigen die Stufen zu der Grotte hinab, in der ein gewisser Johannes im Jahr 95 die Vision vom Weltenende gehabt haben will, die später als letztes Buch Aufnahme ins Neue Testament fand. Wir haben Glück: Ein Mönch liturgiert gerade in der Grotte, Gläubige küssen trotz Covid-19 die Vertiefungen in den Höhlenwänden, in denen der Tradition nach der hl. Johannes seinen Kopf und seine Hand abstützte. Sie sind heute silbern eingerahmt. Auch bekreuzigen sie sich beim Blick auf den Riss in der Grottendecke, die einem Mercedes-Stern ähnelt: Er soll während der Offenbarung entstanden sein und gilt als Symbol der heiligen Dreifaltigkeit.
Danach geht es weiter zum Johanneskloster im Zentrum der Chora. Es ist über 900 Jahre alt, wurde von einem Mönch namens Christodoulos gegründet. Ob seines Ruhms erhielt es viele Geschenke von Pilgern. Sie vermachten ihm auch Ländereien auf Kreta und vielen anderen Inseln, in Kleinasien und sogar in Russland. Das Kloster wurde reich. Die Johanniterritter (1309-1520) und die Osmanen (1521-1912) respektierten seine Würde und ließen es unangetastet. Die patmischen Händler standen unter seinem Schutz, sodass sich der Konvent zu einem Wirtschaftszentrum entfalten konnte. Davon zeugen ja auch die vielen stattlichen Häuser in der Chora.
Heute manifestiert sich der Reichtum des Klosters vor allem in seiner (nicht öffentlich zugänglichen) Bibliothek und in seiner (für Besucher zugänglichen) Schatzkammer. Auf die müssen wir unsere Besichtigung weitgehend beschränken, denn in der Klosterkirche wird gerade großreinegemacht. Ikonen und alte, teilweise illuminierte Handschriften sind ausgestellt, liturgische Geräte und Gewänder und als wertvollster Besitz die kaiserliche Bulle, mit der die Klostergründung im Jahr 1088 gewährt wurde.

Unterwegs auf der Insel

Genug Kultur! Die anderen Klöster der Chora zeigen wir unseren Freunden nicht, fahren stattdessen in den Inselsüden zum Mittagessen. Ein „tarsanas“ ist unser Ziel – eine Bootswerft, die auch über den Winter Boote einlagert. In diese Werft hier ist seit einigen Jahren auch ein sehr originelles Restaurant integriert. Die Gäste sitzen auf der Terrasse oder einem alten Kaiki mit Tischen an Deck. Sie können dem Tun der Werftarbeiter zuschauen (und zuhören), blicken übers Wasser hinweg auf eine vorgelagerte, unbewohnte Insel. Heute sind wir hier die einzigen Gäste. Der Chef hat seine Kellner schon in die Arbeitslosigkeit entlassen, die Köchin bedient. Sie macht alles herzlich und perfekt – und entschuldigt sich trotzdem bei unserem Weggehen für alle Fehler, die sie als nicht-professionelle Kellnerin vielleicht gemacht haben könnte. Wir haben keinen bemerkt.

Perlen von Kieselsteinen

Jetzt wollen wir uns ein paar Inselstrände ansehen. Die meisten Hotels stehen am Grikou Beach. Wir sind die einzigen Fremden an dem langen Band aus Kies und etwas Sand und fahren schnell weiter. Vorbei an der ehemaligen Villa des deutschen Medienzaren Axel Springer kommen wir wieder nach Skala, nutzen die Chance zum Tanken an einer der beiden einzigen Inseltankstellen. „Für zehn Euro maximal“, hatte der Vermieter geraten, „mehr braucht ihr auf unserem Inselchen nicht!“ Dann passieren wir den Kambi Beach, an dem in normalen Jahren viel Wassersport betrieben wird, und erreichen schließlich den Lambi Beach ganz im Inselnorden. Ein Schild macht auch den letzten Unwissenden darauf aufmerksam, dass es hier besonders schöne Kieselsteine gibt. Es verbietet das Mitnehmen von Kieseln. Die beiden Tavernen am Strand sind schon bis zum nächsten Frühjahr geschlossen, nur ein Pärchen liegt unter einer Tamariske. So haben wir den Lambi Beach noch nie erlebt. Wir setzen uns auf die kurze Mole und lassen die Beine überm Wasser baumeln. Etwas Schwermut liegt in der Luft angesichts der total mißratenden Saison 2020 und den Folgen für die Inselbewohner

Keiner da Strand von Lambi
Strand vom Lambi

Der Schwermut zum Trotz

Die Schwermut weicht aber schnell. Den Mietwagen stellen wir auf einem Parkplatz ab und informieren den Vermieter über dessen Standort. „Bis zum nächsten Jahr, danke“, sagt er, sonst nichts. Ob der Wagen einen Kratzer bekommen hat, kontrolliert er nicht, obwohl er ja nicht einmal unsere Adresse hat. Richtig gute Laune bekommen wir etwas später beim Abendessen in einer schlichten Taverne mit Tischen und Stühlen auf der Gasse. Zweimal wöchentlich ist hier Live-Musik angesagt. Wir sind überrascht, dass sogar ein Tsambouna-Spieler zum Ensemble gehört, denn der Dudelsack war lange ein in Griechenland vom Aussterben bedrohtes Instrument. Kaum überrascht sind wir davon, dass wir die einzigen Ausländer an den gut besetzten Tischen sind und es auch bleiben.
Um 10.30 Uhr geht unser Schiff, diesmal die altmodische kleine „Nisos Kalymnos“. Vorher treffen wir beim Frühstück wieder den Schweizer. Er hat seine Griechischlehrerin in spe angerufen, sich mit ihr getroffen und erst einmal fünf Probestunden mit ihr vereinbart. „Wenn sie danach nicht mehr so streng blickt, werde ich wohl weitermachen“, erzählt er und fügt flüsternd an: „Nur etwas jünger hätte sie ruhig sein dürfen.“

Text und Fotos: Klaus Bötig

 

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