Auf der größten griechischen Insel gibt es neben Traumstränden, malerischen venezianischen Hafenstädten und vielen antiken Stätten ein Naturphänomen, das nur selten beworben wird: weitestgehend naturbelassene Schluchten. Der Mitarbeiter der Griechenland Zeitung Vassilis Psaltis erkundet diese bereits seit seiner Studentenzeit. Hier stellt er vier davon vor, die auch für Wander-Anfänger gut zu erschließen sind.
Die Samaria-Schlucht auf Kreta kennt fast jeder. Gegenüber dieser bekanntlich längsten Schlucht europaweit kommen zwar andere weniger prominent daher, bergen aber nicht weniger Reize – und sie sind dabei für jedermann leicht zu erkunden. Als Auftakt eignet sich die Schlucht der Agia Irini im Südwesten Kretas. Sie ist ebenso imposant wie ihre berühmte, benachbarte Schwester Samaria, mit sieben Kilometern jedoch gerade mal halb so lang und lange nicht so zerklüftet.
Wie in den Alpen
Startpunkt ist das gleichnamige Bergdorf Agia Irini. Als wir um halb acht Uhr morgens den Rucksack schultern wollen, ist es gerade mal 15 Grad Celsius kühl. Deshalb nehmen wir – noch in eine Windjacke gehüllt – in einem kleinen Kafenio ein kretisches Frühstück ein: mit Brot, Graviera-Käse, Joghurt, Honig und Orangensaft. All das ist natürlich ebenso aus heimischer Herstellung wie die kretische Tsipouro-Variante „Tsikoudia“, die man an jeder Ecke großzügig gereicht bekommt. Zur Begrüßung, zum Abschied, zum Dank, Trost und zu allen feierlichen Anlässen. Angesichts der besonderen Gastfreundlichkeit lässt sich dieses Angebot nur schwerlich ausschlagen. Akzeptiert wird allenfalls ein ärztlich verordnetes, strenges Alkohol-Verbot. Also Augen zu und runter mit dem Rachenputzer! Bevor die Wirkung einsetzt, geht’s auch schon los.
Kaum auf dem mal steinigen, mal grünen Schluchtpfad unterwegs fühlt man sich in der ersten Hälfte wie in den Alpen. Ein ums andere Mal geht’s bergauf und bergab – und das bis zum Ausgang am Lybischen Meer. Dazwischen passiert der Wanderer bis zu 400 Meter hohe Felsen mit unzähligen Tannen und Fichten, viel Buschwerk und erfreulicherweise auch zwei Picknickplätze mit Holztischen, Bänken und Toiletten. Wasser muss man nicht zwingend mitnehmen. Regelmäßig trifft man auf Brunnen oder Gebirgsbäche.
Dieses Bergidyll beeindruckt auch erfahrene Wanderer wie das Schweizer Ehepaar Emil und Petra: „Die Vegetation ist fantastisch. Diese Oleander, die da aus der kleinsten Felsspalte herauswachsen, die Enge der Schlucht haben uns sehr gefallen, besser als die anderen Schluchten, die ich in Griechenland gesehen habe. Das Auf und Ab, die Abwechslung ist wirklich wunderschön“, teilt Emil mit.
Einen kleinen Haken hat diese Schlucht allerdings: Am Ende stößt man auf eine drei Kilometer lange Asphaltstraße bis Sougia, einem kleinen Fischerdorf, die man noch bewältigen muss. Von dort fährt dann ein Linienbus wieder an die Nordküste, wenn man nicht vorher von Freunden mit dem Auto abgeholt wurde. Die bequemere, aber auch kostspielige Variante ist der Hin- und Rück-Transfer durch private Veranstalter von Busausflügen.
Kräuterdüfte überall
Die gleiche Grundcharakteristik hat die aus Sicht des Autors besonders malerische Imbros-Schlucht. Gut sechs Kilometer lang liegt sie 40 Kilometer weiter östlich und ist noch besser mit dem Linienbus zu erreichen. Imbros ist das höchste Bergdorf der Region und liegt fast 1.000 Meter über dem Meeresspiegel. Schon die kurvenreiche Anfahrt lohnt sich. Und dann natürlich der Abstieg: Da sind zum einen die kaum zwei Meter breiten Felsspalten, zu denen sich die Schlucht zwischenzeitlich verengt. Und da sind zum anderen die vielen Kräuterdüfte, Salbei, Diktamo und Oregano vor allem, die einem immer wieder in die Nase wehen. Und da ist schließlich die Wachposten-Legende Manoussos Kaftanis: Der 63-Jährige ist in Personalunion zugleich Obstbauer, Ziegenhirte, Tsikoudia-Brenner, Jäger, Gestik-Dolmetscher, Bergphilosoph und im Paket mit seinem Maultier Sanitäter und Krankentransporter. Dass er manchmal etwas wortkarg ist, darf man nicht persönlich nehmen. Wer sich jedoch an seiner Berghütte im Gästebuch verewigt, darf sich für ein Erfrischungsbad mit einem Tau in seinen zehn Meter tiefen Grundwasserbrunnen hinabseilen. Wo am Einstieg noch Mittagstemperaturen von bis zu 40 Grad herrschen, sind Luft und Grundwasser zwischen den glitschigen Steinen gerade mal 5 Grad kalt – Saunafeeling mit Abkühlungsbecken wie es natürlicher nicht geht. Die Füße werden es in jedem Fall danken. Wer die Kneippschen Temperaturen nicht ganz so mag und mobil ist, dem sei vom Örtchen Komitades am Südausgang der Imbros-Schlucht aus noch ein Ausklang im benachbarten Frangokastello ans Herz gelegt: Die mittelalterliche, venezianische Burg mit bewegter Geschichte lohnt die Fahrt ebenso wie die Strände und Lokale.
Schlucht für Abenteurer
Als sich die Gelenke erholt haben, pilgern wir weiter nach Osten und treffen auf die Kurtalioti-Schlucht. Obwohl der begehbare Teil ohnehin nur gut drei Kilometer lang ist, ist diese eher etwas für Abenteurer. Denn es gibt keine befestigten Wege und oft bläst dem Wanderer ein scharfer, aber an heißen Tagen eben auch erfrischender Wind ins Gesicht. Vom Schluchtende bahnt man sich mit möglichst wenig Gepäck den Weg flussaufwärts. Dabei geht’s nicht nur über Stock und Stein sowie unter allerlei Baumästen und Strauchwerk hindurch, sondern auch schon mal durch das knietiefe Wasser. Am kleinen Wasserwerk ist endgültig Schluss. Dort muss man eine Steintreppe zur Hauptstraße hinaufsteigen. An der 300 Jahre alten Agios Georgios-Kapelle kann man eine kleine Rast machen und sich gegen eine kleine Spende mit Brot, Käse und Apfelsinen stärken.
Tour zu den Minoern
Wer in unberührter Natur ohne Touristentrecks wandern will, dem sei schließlich die „Schlucht des Todes“ an der Ostküste empfohlen. Den martialischen Namen hat sie, weil in ihren zwei Dutzend auf natürliche Weise entstandenen Grotten in minoischer Zeit Tote beigesetzt wurden. Ansonsten findet sich in diesem Totenreich noch recht viel Leben. Nirgendwo auf Kreta gibt es eine größere Insekten- und Schmetterlingsvielfalt. Und was hat dem einzigen Menschen, den wir unterwegs angetroffen haben, der 36-jährigen Maria aus München, am besten gefallen? „Die Blumen, Rhododendron, der Thymian und die Felsen hier, die Landschaft, wie gemalt, ich war schon dreimal hier.“ Ganz unbeobachtet ist man hier nicht: Alle Nase lang weiden hunderte von neugierigen Ziegen in der immergrünen, gut sechs Kilometer langen Schlucht. Damit die eigensinnigen Tiere nicht entfliehen, muss man am Ein- und Ausgang der Schlucht mehrere Gattertore hinter sich schließen. Archäologie-Freunde können sich übrigens am Schluchtende in Kato Zakros auf einen gut erhaltenen Königspalast freuen. Die 3.500 Jahre alte Festung war ein Handelszentrum für den Warenaustausch mit dem Vorderen Orient und ist erst in den 1960-er Jahren entdeckt worden.
Goldene Bergregeln
Zwei nicht ganz unwichtige Hinweise zum Schluss: Man sollte nicht nur um die Mittagszeit Hut oder Mütze tragen. Die permanente Meeresbrise lässt die starken UV-Strahlen der Sonne häufig vergessen. Überdies gilt: Auf den Schlucht- und Bergpfaden sollte trotz aller Naturerlebnisse der Weg nicht außer Acht gelassen werden. Wer auf einem Stein umknickt oder stürzt muss mitunter lange auf Hilfe warten. Und schließlich: Auf Kreta gibt es zwei giftige Schlangenarten. Sie sind zwar menschenscheu, aber wenn man versehentlich auf eine tritt, kann das unangenehme Folgen haben. Auch deshalb sollte man beim Schluchterlebnis immer feste, knöchelhohe Sport- oder Wanderschuhe tragen. Und dann kann es aber auch schon losgehen – begleitet vom kretischen Gruß „Kalo dromo kai panta jeia!“ („Guten Weg und bleib gesund!“). Ob mit oder ohne Tsikoudia-Stärkung, das ist jedem Wanderfreund selbst überlassen …
Imbros-Schluchtenlegende Mannoussos Kaftanis und GZ-Mitarbeiter Vassilis Psaltis (r.) stoßen mit einer Tsikoudia auf das dritte Wiedersehen an.
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 735 am 22. Juli 2020.