Anafi ist eine der stillsten und doch zugleich strandreichsten Inseln der Kykladen. Nur 271 Menschen sind hier gemeldet. Hochsommerliche Feriengäste sind vor allem Griechen, die unter den Tamarisken an den Stränden frei zelten.
Auf Anafi war ich vorher nur einmal im Leben: im Frühjahr 1983. Das Schiff, das uns heute von Santorin aus herüberbringt, war damals noch relativ neu: Die 1974 erbaute Autofähre „Prevelis“. Sie ist jetzt die einzige, die Anafi ganzjährig zuverlässig mit der Außenwelt verbindet. Wir fühlen uns fast wie beim damaligen Inselspringen: Abfahrt Santorin 3 Uhr in der Nacht, Ankunft auf Anafi 4.40 Uhr am sehr frühen Morgen.1983 wurden wir vor Anafi noch ausgebootet, jetzt legt das Schiff an. Einen Hafen gibt es zwar immer noch nicht, aber immerhin einen Anleger – und eine kleine Marina ist seit 2019 in Bau. Maultiertreiber warten heute nicht mehr, um Passagiere und Gepäck hinauf in die Chora zu tragen. Inzwischen verbindet eine breites, kurvenreiches Asphaltband den Hafenweiler Agios Nikolaos mit der Chora. Und ein Linienbus verkehrt nicht nur zu jeder Schiffsbewegung, sondern fährt im Sommerhalbjahr auch mehrmals täglich zu den schönsten Inselstränden.
Das Rathaus von Anafi
Fein herausgeputzt
An der Endhaltestelle in der Chora holt uns unser Vermieter ab. Wir wohnen direkt an der Platia – mit Blick auf die weite Ägäis in Richtung Kreta und von der Rückseite der kleinen Pension mit nur vier Studios gen Santorin. An der Platia gibt es keine Cafés, wohl aber Kirche und Kriegerdenkmal. Nach einem längeren Nickerchen machen wir uns zum Dorfrundgang auf. Verfallende alte Häuser wie noch 1983 gibt es hier kaum noch, dafür einige Neubauten und die für griechische Orte wohl obligatorische Bauruine. Die steht fast direkt unterm Kastro, der Ruine einer kleinen venezianischen Burg. Von 1207 bis 1537 gehörte Anafi ja zum römisch-katholischen Herzogtum der Kykladen. Erst nannte sie ein Venezianer ihr eigen, dann Bologneser und schließlich die naxiotischen Herzögen des Crispi-Clans. Von der Kastro-Ruine steigen wir zur Hauptgasse der Chora hinunter. Am Weg liegt ein Mini-Museum, das in einem kleinen Raum zeigt, was die Antike an recht belanglosen Zufallsfunden unter freiem Himmel hinterließ. Immerhin sichert es einen Arbeitsplatz, und beweist, dass Anafi auch schon im Altertum bewohnt war. Phönizier sollen die ersten Siedler gewesen sein. Die Hauptgasse zieht sich mit mehreren Schlenkern der Länge nach durch die Chora. 1983 lagen an ihr zwei Kafenia, eine Bäckerei und eine Gemischtwarenhandlung. Jetzt sind es zwei Mini-Märkte, drei Modeboutiquen, ein Laden mit schön verpackten Naturprodukten der Insel, ein Bäcker, drei Cafés, sechs Tavernen und eine Töpferei. Anders als 1983 empfinde ich keine durch die Dorfgassen wehende Melancholie mehr, sondern Hoffnung: auf eine Zukunft als Ferieninsel, die ihren verbliebenen Bewohnern auch ein gutes Überleben im Winter garantieren kann.
Blau, weiß, braun und ganz wenig grün – so ist Anafi.
Die meisten Kapellen sind noch unverschlossen.
Erst 'mal mit dem Bus ...
Für den Inselbus gibt es sogar gedruckte Fahrpläne. Wir fahren zunächst einmal die beiden Routen am Stück ab: Von der Chora zum Hafen und wieder zurück, dann von der Chora oberhalb der Inselstrände entlang bis zum Kloster Zoodochos Pigis, wo das Asphaltband endet. Nur ganze 50 Minuten dauert normalerweise die Tour. Heute ist sie zehn Minuten länger, denn Busbesitzer und -fahrer Georgios ist zugleich auch der Besitzer der einzigen Tankstelle. Normalerweise ist die täglich nur von 19-20 Uhr geöffnet, doch heute ist einem Bauern der Sprit für seinen Pick-Up schon am Vormittag ausgegangen. Da muss Georgios mal eben die Zapfsäule aufschließen und dem Mit-Insulaner helfen. Auch an Georgios’ nächster fahrplanmäßiger Fahrt nehmen wir teil. Es geht wieder hinunter zum Hafen, wo ein zwar kurzer, aber breiter Feinsandstrand, der auch im Wasser nicht kieselig wird, beginnt. Naturschatten spenden Felswände und kleine Grotten. In die Felswände sind Nägel eingeschlagen: In unregelmäßigen Abständen kommt die auslaufende Brandung nämlich bis fast an die Felswände heran. Das hat wohl mit der anhaltenden vulkanischen Aktivität im Meer zwischen Anafi und Santorin zu tun.
Auch etwas Landwirtschaft wird noch betrieben.
Klaus Bötig
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 694 am 2. Oktober 2019.