Sifnos hat es schon seit vielen Jahren geschafft: Der Tourismus auf der Insel floriert. Ohne Flughafen, ohne Hotelkästen, ohne All-inclusive-Resorts, ohne die internationalen Reiseveranstalter – und fast ohne asiatische Kundschaft.
Anders als auf vielen ägäischen Inseln liegt der Hauptort auf Sifnos nicht am Meer. Er erstreckt sich vielmehr an, auf und zwischen terrassierten Hügeln im Inselherzen. Sifnos war eine Bauern- und Viehzüchterinsel – und eine Insel der Töpfer. Vor 100 Jahren waren es über 50, heute sind hier noch fast 20 Keramikateliers zu finden. Sie sind alle auf einer Liste aufgeführt, die man in einem der beiden sonst in Griechenland äußerst seltenen Touristen-Informationsbüros direkt am Fähranleger erhält: einem der Gemeinde und einem der Vereinigung der Zimmervermieter. Auch eine Liste der zehn Inseltaxis liegt hier bereit: Auf einen Zentralruf konnten sich die Fahrer nicht einigen, jeder ist mit eigener Handynummer aufgeführt – außer Taxi Nr. 1, dessen Fahrer kein Telefon mag.
Schönes Artemonas
Sifnos lebt heute, wie fast alle ägäischen Inseln, vor allem vom Tourismus – und das ganz gut. Es gibt zwar keine Pauschalurlauber, kaum Kreuzfahrt-Passagiere und keine Tagesausflügler von größeren Touri-Magneten, dafür aber schon seit über 30 Jahren eine beachtliche Zahl von individuell reisenden Gästen, Griechen vor allem. Zahlreiche Mietwagen stehen für sie bereit, Linienbusse durchkreuzen die Insel von morgens bis Mitternacht. Und auch für Wanderfreunde ist Sifnos bestens erschlossen: Für sie sind 14 Wanderwege von insgesamt fast 100 Kilometern Länge angelegt und gut markiert. Meist nutzen sie uralte Kalderimia, die einstigen Handelswege zwischen Dörfern, Klöstern und winzigen Küstenweilern Wir wohnen in Artemonas im bergigen Inselherzen in einem Haus mit nur vier Apartments, haben zwei Terrassen und einen Balkon, finden also unabhängig vom Sonnenstand immer ein schattiges Plätzchen. Vor der Liegewiese im Garten quaken Frösche in einem kleinen Zierteich, von der Hauptterrasse aus genießen wir einen Blick auf terrassierte Hänge, zwei Esel und weiße, kykladische Häuser. Wirt Giannoulis, ein Mann im Rentenalter, stammt aus Sifnos, verbringt aber nur noch den Sommer hier. In der kalten Jahreszeit sammelt er auf Reisen europäische Metropolen und heilige Stätten – im kommenden Winter sind St. Petersburg und Ägypten dran. Für ein sauberes Haus sorgt die liebenswerte Maria, eine bodenständige Frau aus dem Dorf. Das nach der Göttin Artemis benannte Artemonas ist nahezu autofrei, alle Fahrzeuge stehen auf einem Parkplatz nahe der unteren Platia am Dorfrand mit ihren drei Tavernen, dem obligatorischen Kiosk und einer Konditorei. Davon hat Sifnos mehr als jede andere, vergleichbare Insel. Sifnos ist ein wahres Paradies für Süßmäulchen. Von der Platia führt eine breite Gasse leicht bergan in den Ort hinein. Prunkvolle klassizistische Villen mit blütenreichen Gärten und weinumrankten Terrassen zeugen davon, dass hier die sifnische Oberschicht wohnte. Fast alle von ihnen stehen heute den Großteil des Jahres leer, sind aber gut gepflegt. Künstler- und Schmuckateliers, eine Buchhandlung, ein Ikonenmaler und eine historische Apotheke sind sporadisch eingestreut, dazu ein paar wenige, aber traditionsbewusste Tavernen und Tsipouradika. Alles wirkt authentisch, nichts touristisch aufgemotzt. Sogar ein Bauer auf seinem Maultier kommt uns hier noch entgegen.
Chryssopigi - ein Bilderbuchkloster
Zentrales Apollonia
Artemonas ist mit dem Hauptort der Insel zusammengewachsen, wenn dessen Zentrum auch jenseits eines niedrigen Hügels liegt. Dieser Hauptort trägt den Namen Apolls, des Zwillingsbruders der Artemis. Apollonia ist weitaus wuseliger als Artemonas, wird zudem noch von der Inselhauptstraße zerschnitten. Die autofreie Hauptgasse hier kann zwar nicht mit den Flaniermeilen von Paros, Mykonos oder Santorin konkurrieren, zieht vor allem abends aber viele Urlauber an. Die können hier sogar auf Dachterrassen ihren Ouzo oder Sprizz konsumieren. Uns gefällt es hier nicht – aber Geschmäcker sind eben verschieden.
Kastro – das Bilderbuchdorf
Zu unserem Lieblingsort wird das auf einem Fels hoch überm Meer gelegene Kastro, das bis 1836 die Inselhauptstadt war. Als ich vor 36 Jahren zum letzten Mal dort gewesen bin, war es nahezu tot. Jetzt ist es ein schmuckes, urkykladisches Dorf wie aus dem Bilderbuch, in dem zumindest im Sommer auch wieder Menschen leben. Kastra (Kastelle) wie dieses Kastro gab es im späten Mittelalter auf fast jeder Kykladeninsel. Die äußere Häuserreihe dieser Dörfer war nach außen hin ursprünglich nahezu fensterlos und diente als Verteidigungsmauer. Im Dorf gab es dann meist noch eine zweite Häuserreihe um die Burg herum, in der der jeweilige Inselherr lebte. Gut erhalten sind solche Kastra außer auf Sifnos auch noch auf Antiparos und Kimolos. Keins ist so schön herausgeputzt wie das sifnische. Von der Bushaltestelle steigen wir durch ein Spalier schicker Sonnenschirme zweier exzellenter Restaurants über ein paar Stufen zur äußeren Häuserreihe empor. Wir passieren ein kleines Kunsthandwerksgeschäft, das hochwertige Keramik von der Nachbarinsel Paros verkauft, und gehen durch eine übedachte Passage – eines der alten Stadttore – ins Kastro hinein. An den schmalen Gassen mit einem Pflaster aus Steinplatten und -plättchen, die fast alle weiß umkalkt sind, stehen antike Sarkophage, die einst wohl als Wasserbecken weitergenutzt wurden. Etwa 20 Kirchen fügen sich in die Häuserzeilen ein, auf dem höchsten Punkt befinden sich Reste der Burg. Im Nordosten des Dorfes sind auf der Seeseite noch Reste einer archaischen Stadtmauer erhalten – und tief drunten umtost die Brandung das isolierte weiße Kirchlein der sieben Märtyrer auf einem niedrigen Felsvorsprung direkt in der Ägäis. Im winzigen Archäologischen Museum im Obergeschoss eines Hauses überraschen uns einige außergewöhnliche Zufallsfunde aus der über 5.000-jährigen Siedlungsgeschichte des Dorfes. Uns faszinieren eine marmorne Urne, deren Deckel Dächern aus Schieferplatten ähnelt, und eine kleine römische Statue der ephesischen Artemis, deren vermeintlich vielen Brüste in Wahrheit wohl die Hoden von Stieren darstellen, die man ihr geopfert hat. Auf einer 2.700 Jahre alten Tonscherbe blickt uns ein dreieckiger Pantherkopf mit erhobener Pranke fast wie eine Comic-Figur an.
Auf geht es ins Dorf Kastro.
Neue archäologische Stätte
Wir bleiben der Geschichte auf der Spur, fahren auf einer noch keine zehn Jahre alten Asphaltstraße hinauf zu den erst in diesem Jahrzehnt mit Unterstützung der EU und eines sifnischen Sponsors aus der Schifffahrtsbranche für Besucher erschlossenen Ausgrabungen von Agios Andreas. Systematische Grabungen zwischen 1970 und 2010 haben hier auf einem 50.000 Quadratmeter großen Areal auf einer Bergkuppe zahlreiche Grundmauern einer Siedlung ans Licht gebracht, die schon um 4.000 v. Chr. bewohnt war. In archaischer Zeit bildete sie neben Kastro wohl das zweite Siedlungszentrum der Insel. Ihm kam durch seine exponierte Lage eine besondere Bedeutung zu: Es lag im Mittelpunkt einer Reihe von über die ganze Insel verstreuten Signaltürmen, mit denen die Bevölkerung vor über See herannahenden Feinden gewarnt werden konnte.
Ausgrabungen Agios Andreas:
Das vergoldete Ei
Viele andere griechische Stadt- und Inselstaaten blickten nämlich neidisch nach Sifnos, das durch seine meist auf Meereshöhe gelegenen Goldminen in archaischer Zeit zu großem Reichtum gelangte. In Delphi erbauten die Sifnier das erste dem Gott Apoll geweihte Schatzhaus aus reinem Marmor. In ihren eigenen Siedlungen errichteten sie nicht nur den Göttern marmorne Tempel, sondern verwendeten das edle Material frevlerisch auch für Profanbauten. Und dem delphischen Apoll und seinen Priestern stifteten sie alljährlich ein Zehntel ihrer Einnahmen in Form eines mehr oder minder großen Eis aus purem Gold – bis zu jenem schicksalsschweren Tag um das Jahr 500 v. Chr. herum, an dem sie knauserig wurden. Da präsentierten sie dem schönen Gott und seinen Priestern nur ein vergoldetes Ei. Die Priester bemerkten den Schwindel, und Apoll sandte umgehend die Strafe: Das Meer brach in die Goldminen ein, machte sie für alle Zeiten unbrauchbar. Mit den Sifniern ging es von nun an bergab. Doch damit nicht genug der göttlichen Rache. Um die gleiche Zeit herum landete eine Delegation von Samiern auf der Insel und erbat sich ein Darlehen von zehn Talenten, das ihnen die Sifnier verweigerten. Daraufhin plünderten die Samier kurzerhand die Insel, ließen 1.000 Talente mitgehen und segelten wieder davon. Letztendlich beruhte auch dieses Ungemach auf einer Missachtung Apolls: Das delphische Orakel hatte den Sifniern nämlich verkündet, „sich vor einer hölzernen Kompanie“ – den Schiffen der Samier – in Acht zu nehmen.
Klaus Bötig
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 691 am 4. September 2019.