Nur den wenigsten ist das Dorf Katafygi in den Bergen von Pieria ein Begriff. Den kaum bekannten Geburtsort des wahren Sorbas will der dortige Bürgermeister aus seinem Dornröschenschlaf erwecken.
Es gibt viele griechische Mythen, nicht nur aus der Antike, sondern auch aus moderneren Zeiten. Mit dem Welterfolg des Films „Alexis Sorbas“ von Regisseur Michalis Cacoyannis und mit Antony Quinn in der Hauptrolle entstand Mitte der 1960er z. B. ein solcher Mythos: Damals wurde der angeblich so typisch griechische „Syrtaki-Tanz“ berühmt. Nur, dass es diesen Tanz bis dahin gar nicht gegeben hatte. Der Syrtaki ist eine Mischung aus zwei griechischen Tänzen (Pentosali und Chasapiko) und wurde von Mikis Theodorakis eigens für den Sorbas-Film komponiert. Aber da gibt es noch einen zweiten Mythos: Der scheinbar aus Kreta stammende Held der Verfilmung des Kazantzakis-Werkes „Alexis Sorbas“ ist in Wahrheit ein waschechter Makedonier gewesen. Geboren im nordgriechischen, gebirgigen Teil Makedoniens, der Pieria, nahe dem Götterberg Olymp. Sein Dorf gehört zu den drei höchst gelegenen Griechenlands und bis heute kennt kaum jemand Katafygi. Und wäre da nicht ein resoluter Bürgermeister, würde der Ort ganz bestimmt auch künftig keine Chance haben, bekannter zu werden. Doch dieser Mann nimmt die Geschichte seines Heimatdorfes sehr ernst, und er hat sich vorgenommen, Katafygi samt seinen weltberühmten Sohn endlich aus der Versenkung hervor zu heben und es in ein beliebtes Reiseziel zu verwandeln.
Spannende Anfahrt
Die Straße zum knapp 1500 Meter hoch gelegenen Katafygi führt mitten durch den Wald. Die Fahrt ist abenteuerlich. Es geht auf einem plattgefahrenen Schotterweg mit einigen beachtlich tiefen Furchen, die man mit einem schlichten Pkw lieber vorsichtig umfahren sollte, nur langsam voran. Für meinen alternden „Hermes“ ist die Anreise nach Katfygi jedenfalls eine beinahe unzumutbare Herausforderung. Für diese Mühen werde ich aber mit dem Landschaftsbild eines üppigen grünen dichten Baumbestands belohnt. Ein zunächst schattenspendender Mischwald geht mehr und mehr in einen dichten Kiefernwald über. Pinus Sylvestris, die „Gewöhnliche Kiefer“ oder auch „Waldkiefer“ genannt, ist hier heimisch. Da die Hitze in der makedonischen Tiefebene oft ihr Unwesen treibt, dürfen meine Lungen sich hier mit frischem, kühlenden Sauerstoff auffüllen. – Hmmm, wie gut das tut! Es riecht nach würzigen Nadelbäumen und feuchtem Waldboden. Wie wohltuend sind auch die friedlichen Naturgeräusche! Plötzlich: Wie aus dem Nichts taucht ein junger Mann auf und winkt mich mit der Geste eines um Hilfe Bittenden heran.
Zufall oder Bestimmung?
Ich zaudere im ersten Moment. Ob ich nicht doch lieber weiterfahren soll? Doch mein Gefühl sagt mir, ich kann anhalten. Der völlig aufgelöste Mann schnappt nach Luft. Er sei auf der Suche nach Pilzen gewesen, sagt er, als sich sein Wagen auf einem Seitenweg im weichen Boden festgefahren habe. Zu meinem und seinem Glück tauchen 30 Sekunden später drei junge Touristen aus Russland auf, die ebenfalls hinauf nach Katafygi wollen. Und diese können ihm im Vergleich zu mir dann auch wirklich aus der Patsche helfen. Einer setzt sich ans Lenkrad, die anderen schieben. Das Geräusch des aufbrausenden Motors unterbricht für einen kurzen Moment den Waldfrieden. Doch dann findet der Reifen griffigen Boden, das Auto setzt sich in Bewegung. Die Rettungsaktion wird erfolgreich beendet. Ende gut, alles gut! Der entstandene Schaden ist nicht der Rede wert, heißt es: Lediglich ein kaputtes Rücklicht! Beim Abschied frage ich den jungen griechischen Autofahrer nach seinem Namen. Seine Antwort: „Ich heiße Haris, Haris Sorbas!“ – Sie können sich meinen erstaunten Ausruf sicher vorstellen. Wenn das kein Zufall ist, denke ich mir. Auf der Suche nach Sorbas hat er mich gefunden. Haris erklärt mir fast beiläufig: „Ich stamme vom bekannten Sorbas ab. Ich hab einen Onkel, der sogar seinen Vornamen trägt. Ein Angehöriger des Sorbas-Clans aus Katafygi siedelte sich irgendwann unten im Tal an. Das ist ein entfernter Cousin meines Vaters gewesen. Also, wenn ich etwas genauer darüber nachdenke, dann müsste der berühmte Sorbas ein entfernter Onkel dritten, vierten Grades von mir sein.“ Nach einem kurzen Abschiedsgruß setze ich meine Reise in das noch acht Kilometer entfernte Katafygi fort. Noch steht die Sonne hoch, aber zu dieser späten Nachmittagsstunde ist niemand auf der Straße. Die wenigen Leute, die hier das ganze Jahr leben, sind in ihren Häusern. Ich parke an der alten Schule und laufe entlang einer Wasserrinne mit frischem Quellwasser zur gegenüberliegenden Taverne. Es wundert mich nicht sonderlich, dass sie „Taverne zum Sorbas“ heißt. An einem Tisch wartet bereits Bürgermeister Jannis Tselias auf mich.
Bürgermeister Jannis Tselias erzählt gerne von Giorgos Sorbas.
Hart erkämpfte Erfolge
Bei einem griechischen Mokka schüttet mir der Bürgermeister sein Herz aus. In den vergangenen Jahren hätten viele Katafigioten zwar hier oben neu gebaut oder ihre Heime renoviert. Dreihundert Häuser gebe es inzwischen, doch sei diese Entwicklung nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Um ganzjährig hier oben zu leben, bräuchte es weit mehrere Voraussetzungen, so Tselias. Fast alle kommen im Sommermonat August, doch danach ziehen sie wieder ins Tal. Die Zugangsstraße nach Katafygi kommt ohnehin einer Mutprobe gleich. „Das, was endlich passieren muss, ist der Bau einer vernünftigen Straße, die uns mit den Gemeinden im Tal verbindet. Wir benötigen dazu aber dringend finanzielle Hilfe. Außerdem müssten die Gassen im Ort dringend zementiert und gepflastert werden“, erklärt mir der Kommunalpolitiker. Was der Bürgermeister in der Heimat von Sorbas zu leisten hat, nenne ich Pionierarbeit. Und das im Jahr 2018! Ich finde das unglaublich. Die Straße nach Katafygi, so höre ich, fällt abschnittsweise in den Zuständigkeitsbereich von drei verschiedenen Bezirksgemeinden. Und die können sich bis heute nicht darauf einigen, wer das Geld für den Straßenbau zu liefern habe. Welch eine Geschichte! Nicht zuletzt deswegen bleibt der wahre Geburtsort des weltberühmten Romanhelden Alexis Sorbas bis heute den Meisten unbekannt. Doch Bürgermeister Tselias hat nicht vor, die Ausbaupläne für sein Dorf so schnell aufzugeben. Für ihn ist Sorbas nicht nur Katafigiote, nicht nur Grieche. Er gehört dem Weltkulturerbe an. Und das verpflichtet. Rasch blättert er in seinen Unterlagen, die er mir zur Ansicht mitgebracht hat. Denn: Wer daran zweifelt, dass Sorbas von Katafygi stammt, dem liefert Tselias Beweise – schwarz auf weiß.
Sorbas in luftigen Höhen
„Hier, das ist die Geburtenliste unseres Ortes von 1913, die wir von Innenministerium erhalten haben. Sie ist der Beweis, dass Giorgos Sorbas hier geboren ist, dass er zunächst Waldarbeiter gewesen ist und bis zu seinem 22. Lebensjahr in Katafygi gelebt hat, bevor er wegging und später im Bergbau zu arbeiten, und danach sein eigenes Bergwerk kaufte.“ Bürgermeister Tselias hat so viel vom echten Sorbas zu erzählen, dass ich ihn kaum bremsen kann. „Heute wissen wir, dass Nikos Kazantzakis mit dem Romanhelden Sorbas eng befreundet war und seinen Roman nach ihm benennen wollte, also Giorgos Sorbas. Doch als das Buch veröffentlicht werden sollte, lebte Sorbas nicht mehr und sein Sohn, ein Offizier der griechischen Armee, hatte starke Bedenken, weil sein Vater im Roman als großer Frauenheld beschrieben wurde. So riet schließlich Kazantzakis’ Anwalt zu einer Namensänderung. Und der ursprüngliche Titel „Giorgos Sorbas“ wurde in „Alexis Sorbas“ umgetauft. Kazantzakis erlangte mit seinem Roman Weltruhm. Aber kaum jemand wusste, dass der Held Sorbas tatsächlich existiert hat.
Impressionen aus Katafygi
Es sind nicht nur die schlechten Straßen, die verhindern, dass Katafygi in den griechischen Bergen aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Es wird einfach zu wenig davon berichtet, was der Gast dort oben alles erleben kann. Da gibt es zum Beispiel die alte Schule des Dorfes. In den Kellerräumen hat der Kulturverein in akribischer Arbeit ein schmuckes Volkskundemuseum kreiert. Stolz zeigt mir Bürgermeister Tselias darin die originalgetreue Miniaturinstallation einer traditionellen Holzhandsäge. Er drückt auf einen Schalter und schon beginnen zwei Puppen die Säge hin und her zu bewegen. Die Katafigioten waren vor 200 Jahren noch im ganzen osmanischen Reich als ausgezeichnete Holzfäller bekannt. Und genossen deshalb auch besondere Privilegien.
Auch eine kleine Tour mit dem Auto in und um Katafygi lohnt. Auf den kleinen, teils verwilderten Gassen geht es auf und ab. Jannis Tselias will mich auch zu einer wichtigen Wasserstelle führen, die von einer nahegelegenen Quelle gespeist wird.
Karaouli-Panorama bei Sonnenuntergang mit dem Polifytou-See im Hintergrund.
Geheimnisvolle Wasser-Feen
Dort angekommen erzählt er von einer doch recht unheimlichen Geschichte. Der Bruder seiner Großmutter hielt vor 70 Jahren an dieser Wasserstelle immer an, um seine Schafe zu tränken. Eines Tages tauchten plötzlich zwei in weiß gekleidete Gestalten auf, die Tselias als Neraiden bezeichnete. „Weil der Schäfer bei ihrem Anblick erschrak, verfluchte er sie. Doch im selben Moment blieb seine Stimme weg. Seine beiden Schwestern hängten am Abend ein gestricktes Kleidungsstück an die Eingangstür, um das Böse vom Haus fern zu halten.“ Am nächsten Morgen sei das Wollteil völlig zerfetzt gewesen, erzählt der Bürgermeister und fährt fort: „Das Böse hatte sich darin verfangen. An jenem Morgen ging der Mann zum Dorfpriester und bat um einen Segensspruch. Kurz danach kam seine Stimme wieder. Seitdem ist diese magische Wasserstelle bei uns etwas ganz Besonderes.“ Bis heute tränken die Schäfer ihre Tiere dort mit frischem Quellwasser. Doch nach dieser Geschichte hüten sie sich ganz bestimmt davor, einen Fluch auszusprechen. Jannis Tselias hat heute ganz andere Sorgen. Die Überdachung der Wasserstelle droht im kommenden Winter zusammen zu brechen. Woher das Geld für die Instandsetzung kommen soll, weiß der Mann nicht. „Ich werde vermutlich selbst mit meinem Werkzeugkasten anpacken müssen.“
Das Geburtshaus von Sorbas
Das Wichtigste hat der Bürgermeister für den Schluss aufbewahrt: Das Geburtshaus von Alexis, nein, natürlich Giorgos Sorbas! Doch was ich sehe, ist kein Haus, sondern eine Ruine. Überall zerbrochene Glasscherben. Die Stufen hinunter zum Grundstück, total kaputt. Der Bürgermeister erklärt mir, das Bauunternehmen habe sie reingelegt. Sie hätten beim Wiederaufbau zu wenig Zement verwendet. Jetzt drohten sogar die Außenwände einzustürzen. Auf etliche Millionen Euro wurde das Bauvorhaben vor vielen Jahren geschätzt. Heute bräuchte er nicht mehr als 50.000 Euro, um es zu renovieren und ein kleines Sorbas-Museum darin einzurichten, glaubt der Bürgermeister. Sorbas’ Geburtshaus braucht auf jeden Fall viele Unterstützer, ob mit Know-how oder mit kleinen Spenden: „Jede Hilfe ist willkommen. Mir braucht niemand Geld in die Hand zu drücken. Wenn es auf dieser Welt noch irgendwo einen Sorbas-Freund geben sollte, der Zeit und Lust hat und hier mit einer eigenen Mannschaft anreisen und sich des Projekts annehmen will, dem sage ich: Nur zu! Wir werden ihm für alle Zeiten dankbar sein. Denn Sorbas gehört weder Katafygi noch Griechenland an. Er gehört der ganzen Welt“.
Text und Fotos: Marianthi Milona
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 660 am 16. Januar 2019.