Vergina ist durch das Grab des makedonischen Königs Philip II. weltberühmt geworden. Die nur 13 Kilometer entfernte Stadt Veria kennt hingegen kaum jemand. Dabei predigte hier laut Bibel einst sogar der Apostel Paulus, galt Veria einmal als Klein-Jerusalem des Balkans und ist heute ein quicklebendiger Ort mit inzwischen schön herausgeputzten Altstadtvierteln.
Nachts um zwei Uhr herrscht bei Mr. Wurst Hochbetrieb. Inhaber Jannis, der in Deutschland Hotelkaufmann lernte und in diversen deutschen Hotels gearbeitet hat, hat sich im Altstadtviertel Kyriotissa mit seinem Imbisslokal selbständig gemacht. Vorher hatte er in Griechenland 75 Bewerbungen an Hotels geschickt und von keinem einzigen auch nur eine Empfangsbestätigung erhalten. Stets bei ihm ist seine Frau Efgenia, die er kennenlernte, als sie einen Onkel in Wuppertal besuchte. Beide haben etliche Verioten dazu gebracht, immer häufiger Brat- und Currywurst zu essen als Gyros und Souvlaki. Ihr Erfolgsrezept: Sie importieren all ihre Würste direkt aus Deutschland, stehen fast immer selbst am Grill und liefern natürlich auch ins Haus.
Ein Abend in Veria
Einen deftigen Snack können wir nach einem langen Abend in Veria gut gebrauchen. Er begann ganz klassisch mit einem Freddo Espresso im „Elia“ am Steilhang hoch über dem riesigen Delta der Flüsse Axios, Loudias und Aliakmonas, das sich bis nach Thessaloniki hin erstreckt. Die Lichter der Großstadt sind bei halbwegs klarer Sicht von hier aus abends gut zu erkennen. Das Elia ist Panoramacafé, Restaurant, Eissalon und Musikclub zugleich, schließt nie seine Pforten. Anders das nur wenige Schritte entfernte Archäologische Museum: Es ist nur 42 Stunden pro Woche geöffnet. So müssen wir darauf verzichten, uns dort das Marmorhaupt der Medusa anzuschauen, das einst über einem Stadttor des antiken Beroia Feinde abschrecken sollte. Auch die übrigen Funde aus der gesamten Region Imathia bleiben uns erst einmal verborgen.
Stattdessen bummeln wir die Haupteinkaufsstraße der Stadt leicht hügelan. Lisa, die aus Veria stammt und uns heute Abend begleitet, macht uns auf die umstrittenen Fahrbahnverengungen aufmerksam. Sie sind äußerst umstritten, denn sie haben dazu geführt, dass die einst vielen Ausflugsbusse aus anderen Teilen Griechenlands kaum noch nach Veria kommen. Besonders heftig klagen Bäcker und Konditoren: Früher kamen griechische Reisegruppen zu Hauf in die Stadt, um hier den Grieskuchen „Revani“ zu essen, der der beste das ganzen Landes sein soll. Jetzt machen sie einen Bogen ums Städtchen. Wir hingegen begrüßen die Verkehrsberuhigungen und wundern uns, dass alle Autos anhalten, wenn wir die Straße überqueren wollen. Lisa verkündet uns stolz, die Autofahrer hier würden als die rücksichtsvollsten Griechenlands gelten.
Klassisch, christlich, ottomanisch
Am oberen Ende mündet die Mitropoleos-Straße auf den Raktivan-Platz. Wir setzen uns gegenüber vom alten Justizgebäude aus ottomanischer Zeit in ein schlichtes Straßen-Kafenio, von denen es ja leider immer weniger gibt. Hier im „To Steki“ sitzen vor allem ältere Männer, drinnen wird eifrig Karten gespielt. Am Nachbartisch versteht man unsere Sprache, gleich werden alle herbeigerufen, die irgendwann einmal in Deutschland gearbeitet haben. Und das sind recht viele. Wir werden zum Tsipouro eingeladen und lernen dabei etwas hinzu: Hier in Nordgriechenland bestellt man Tresterschnaps ohne Kräuter als „Grappa“. Und nette Geschichten hören wir natürlich auch, wie die von den Straßenhunden: Weil die Gemeinde sich nicht um die Straßenhunde kümmert, seien die bei der diesjährigen Parade zum Tag der Befreiung Verias von den Türken am 16. Oktober 1912 vorneweg marschiert …
Bevor wir unseren bunten Abend fortsetzen, unternehmen wir noch den kurzen Abstecher zur Kanzel (Bema) des Apostels Paulus. Zwei große, zeitgenössische Mosaike mit reichem Goldhintergrund erzählen uns hier die Geschichte von der Vision des Apostels im kleinasiatischen Ephesos, die ihn beauftragte, Nordgriechenland zu missionieren. So kam er auch zweimal (50 und 57) nach Veria und predigte dessen Bewohnern den neuen Glauben. Diese Bema ist heute die touristische Hauptattraktion der Stadt, die vor allem fromme Kirchengemeinden mit ihrem Pappas und Ausflügler des Seniorenvereins Kapi anlockt.
Gleich neben einem der Mosaike ragt das Symbol eines anderen Glaubens in den Himmel: das Minarett der Medrese-Moschee. Sie ist als eine von drei der einst 15 Moscheen Verias erhalten geblieben. Gleich zum Auftakt unseren Bummels durchs Altstadtviertel Kyriotissa kommen wir wenige Minuten später am eindrucksvollsten osmanischen Bau vorbei: dem zweiteiligen Hamam. Unter einer Kuppel schwitzten die Frauen, unter der anderen die Männer.
Griechisches Karaoke
Etwas ins Schwitzen kommen auch die meisten Gäste an unserem nächsten Ziel, dem Grillrestaurant „Foul tis Souvlas“. Auf dem Weg dorthin schauen wir eher zufällig noch in die Anarchisten-Kneipe des Städtchens hinein. Poster und Flugblätter wenden sich an die Szene, ein Terminplan weist auf Filmvorführungen und Musikveranstaltungen in nächster Zeit hin. Im Bücherregal stehen die Biographien von Sozialisten und Kommunisten. Die Getränke am Tresen sind superbillig, zur Unterhaltung steht auch ein Kicker herum. Das Mobiliar stammt aus Haushaltsauflösungen. Ein junger Mann führt uns herum und erklärt, was man hier so macht. Wir verstehen: Der Wunsch nach einer herrschaftslosen Gesellschaft hat nicht unbedingt etwas mit Steinewerfen zu tun.
Im „Foul tis Souvlas“ sind die Gäste ganz anders. Der Wirt hat zum ersten griechischen Karaoke-Abend des Städtchens bei Kokoretsi und Souvla geladen. Ein Lehrer aus der Stadt Larissa hat das Heft in der Hand. Eigentlich hat er sein Programm entwickelt, damit seine Schüler die oft so poetischen Texte griechischer Songs besser lernen. Weil deren Eltern daran aber mindestens ebenso interessiert waren, kam er auf die Ide, mit seiner Karaoke-Show durch Kneipen zu tingeln. Das Publikum hat bei Texten von Mikis Theodorakis und des Nobelpreisträgers Odyseas Elytis seinen Spaß, tanzt auch öfters dazu. Das einzige Problem des Moderators: Er muss sein Publikum immer wieder bitten, nicht im Chor mitzusingen, sondern den Hobby-Interpreten am Mikrofon die Show nicht zu stehlen.
Klein-Jerusalem
Am nächsten Vormittag steht Kultur auf unserem Stundenplan. Wir wollen sehen, was von Klein-Jerusalem übrig blieb. So hat man Veria in spätbyzantinischer und ottomanischer Zeit wegen seiner 72 Kirchen genannt. 48 davon sind erhalten und bergen zumeist historische Fresken. Um einige von ihnen besichtigen zu können, müssen wir zunächst ins Byzantinische Museum gehen. Das ist seit 2002 auf den vier Geschossen einer alten Industriemühle am Altstadtrand angesiedelt. Hier sind nicht nur viele kostbare Ikonen, Wandmalereien und frühchristliche Mosaikfußböden zu sehen, sondern auch viel mittelalterliche Keramik. Intensiv dargestellt werden auch die Lebensbedingungen von Malern und Kunsthandwerkern sowie die Stadtgeschichte. Wenn genug Personal da ist, geht einmal täglich auch ein Museumswärter mit Interessenten durch die Altstadt und schließt ihnen fünf der schönsten Kirchen auf.
Allein kann man dann anschließend noch durch das erst jüngst ansprechend restaurierte ehemalige Judenviertel der Stadt schlendern, Barbouta. Es liegt zu Füßen des Stadtzentrums am Ufer des rauschenden Gebirgsflüsschens Tripotamos. Bunt geht's da zu, denn etliche der hervorragend restaurierten Archontika (Herrenhäuser) wurden wieder farbig angemalt. In einigen von ihnen sitzen Behörden, Kulturvereine und -institute, andere bereichern als kleine, stimmungsvolle Hotels die Attraktivität Verias als Reiseziel. Vollständig restauriert wurde hier die älteste noch existierende Synagoge Nordgriechenlands aus der Zeit um 1850.
Neues aus Vergina
Weil es so nah liegt, fahren wir am Montagmorgen auch noch über die Staumauer des Sfikia-Stausees ins nur 15 Minuten entfernte Vergina hinüber, um zu schauen, was es Neues gibt. Das Museum im rekonstruierten Grabhügel erweist sich ebenso wie das dort gefundene Grab Philipp II. als unverändert. Der Königspalast etwas außerhalb des heutigen Dorfes steht aber nach über zehn Jahren Sperrung werktags wieder der Öffentlichkeit zur Besichtigung offen. Archäologen und Restaurateure werden dort mindestens noch bis Juni 2023 tätig sein, aber jetzt darf man zumindest von außen einen Blick hinein werfen und von einem Podest aus schon einmal einen Blick auf die aufwändig restaurierten Mosaike werfen. (Fotografieren strikt verboten). Neu ist auch ein kleiner Laden namens „Front“ zwischen Großparkplatz und Grabhügel. Da verkauft eine Sozialinitiative aus Veria Geschenkartikel und Souvenirs, die von Mitgliedern hergestellt werden. Der Reinerlös kommt den 32 Kindern zugute, die in einem Zentrum für Tagesbetreuung in Veria und einem Haus für Langzeitbetreuung in Vergina untergekommen sind. Wer mag, kann über den Kaufpreis hinaus auch gern eine Spende dort lassen.
Text: Klaus Bötig; Fotos: Christiane Bötig
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 657 am 19. Dezember 2018.