Serifos gehört zu jenen Inselzwergen, die ohne Tourismus kaum überlebensfähig sind. Das war einmal anders. Hier wurde intensiv Bergbau betrieben, wurde 1916 sogar Griechenlands erster organisierter Arbeiterstreik blutig niedergeschlagen.
Den Ruhrpott verbindet jeder mit Bergbau und Bergwerken. Bei den griechischen Inseln denkt heute kaum noch jemand daran. Am ehesten weiß man noch von den Marmorbrüchen auf Thassos, Tinos und Naxos. Dabei wird auch auf Milos und Kimolos noch intensiv Bergbau betrieben, zwischen Kos und Nissyros sogar eine ganze Insel langsam abgetragen. Bis in die Nachkriegsjahre war noch viel mehr los. Auch auf Syros und Kythnos wurden Bodenschätze gewonnen – und sehr intensiv auf Serifos, einem Juwel der Kykladen.
Perfektes Duo: Livadi und Chora
Serifos ist eine der Kykladen, die ihre Schönheit nicht schüchtern vor dem Ankömmling verbirgt, sondern die sie ihm gleich offenbart. Wenn die Fähre in die langgestreckte Hafenbucht einläuft, laufen die Smartphones der Fotografen heiß. Gleich hinterm Hafenort Livadi und seinen von Tamarisken gesäumten Stränden steigen schon die ersten Häuser den Hang hinauf zum Burgberg, den die Chora krönt. Während sich anderen mittelalterlichen Hauptorte der Kykladen oft vor Seeräubern im Inselinnern versteckt haben, hat die Chora von Serifos immer stolz auf sie hinabgeschaut. Und auch gegen die modernen Freibeuter der Ägäis, die Touristen, setzt sie sich ziemlich erfolgreich zur Wehr: In der Chora werden so gut wie keine Fremdenzimmer vermietet. Wer auf Serifos Urlaub machen will, muss im Hafenort Livadi oder an einem der insgesamt 72 Inselstrände wohnen. Da stehen dann sogar kleine Luxus-Hotels wie das der internationalen griechischen Trendmarke Coco-Mat.
Wir haben einen modernen Bungalow auf dem Campingplatz von Livadi gebucht. Da schlafen wir nur 40 Meter vom Meer entfernt. Der Platz ist angenehm klein, bietet den Schatten vieler alter Bäume – und liegt direkt an einem der schönsten Inselstrände.
Livadi selbst entpuppt sich als recht langweilig – außer Strand, Cafés und Tavernen hat es überhaupt nichts zu bieten. Also wandern wir gleich etwa eine Stunde lang zur Chora hinauf. Es ist Mitte Mai, sie ist gerade aus ihrem Winterschlaf erwacht. Vor Ostern wohnt hier fast niemand mehr, ist kein einziges Kafenio geöffnet. Jetzt kehren die Leute zurück, die hier ein Haus oder ein Geschäft besitzen. Esel stehen bereit, um neue Einrichtungsgegenstände oder auch Baumaterialien von der Straße aus im Dorf zu verteilen. Hauptachse der Chora ist die Odos Kyklopon. Sie führt hinauf bis zu spärlichen Überresten der mittelalterlichen Burg, an deren Stelle jetzt ein Kirchlein steht. Von da aus ist der Blick hinunter auf die Dächer der Chora und die Bucht von Livadi so traumhaft schön, dass man gar nicht mehr fortgehen mag. Aber schließlich lockt doch die Platia, wo zwischen kleinen kykladischen Häuschen, einer großen Kirche aus dem 17. Jahrhundert und dem dringend renovierungsbedürftigen klassizistischen Rathaus die kunterbunten Tische und Stühle mehrerer Mezedopolia stehen. Wir entscheiden uns fürs „Café tou Stratou“. Da hat Wirt Efstratios seine Speise- und Getränkekarte als poetisches Kunstwerk konzipiert: Zwischen seine Angebote hat er Gedichte griechischer und ausländischer Autoren in der jeweiligen Originalsprache integriert (auch Goethe und Shakespeare sind dabei) und Gemälde von Degas, Gauguin, Theofilos und vielen anderen Meistern eingestreut.
Die Bauern fehlen
Am nächsten Tag sind wir im Mietwagen unterwegs. Zwei Rundfahrten auf guten Asphaltstraßen sind auf der nur 73 Quadratkilometer kleinen Insel möglich. Zusammen macht das gerade einmal 60 Kilometer im Auto. Vielen Menschen werden wir dabei nicht begegnen: Von den bei der letzten Volkszählung 2011 registrierten 1.420 Insulanern leben fast alle in Livadi, wenn sie denn überhaupt ganzjährig auf Serifos bleiben.
Unser erstes Ziel ist das Erzengelskloster, Moni ton Taxiarchon. Mit seiner acht bis zehn Meter hohen Umwallung erscheint es wie eine Festung. Die Pechnase über dem Eingang zeugt noch von den gefährlichen Zeiten der Seeräuberei. Einst zählte es bis zu 30 Mönche. Heute lebt nur noch einer darin, ist aber viel unterwegs. Dann bleibt der Konvent geschlossen.
Viel älter als das Kloster ist die Marienkirche im Weiler Panagia. Sie steht an der Platia, die nur noch von leblosen, unbewohnten Häuschen umringt ist. Bauern gibt es auf Serifos kaum noch, Terrassen und Felder verfallen. Selbst das letzte Kafenio an der Platia von Panagia ist weg, näher an die Hauptstraße gezogen. Seine Wirtin verwahrt aber noch immer den Schlüssel zum über 1000 Jahre alten Gotteshaus, dessen Fresken aus dem 13. Jahrhundert allerdings bis zur Unkenntlichkeit verblichen sind. Alljährlich am 15. August wird hier noch immer Kirchweih gefeiert. Dann sind auch viele Leute da. Früher wurde dieses Fest auch Prügel-Kirchweih genannt, weil die Junggesellen der Insel sich mit Oleanderruten um das Vorrecht stritten, mit ihrer Braut den Tanz der Inseljugend anzuführen. Man glaubte, dass der Sieger seine Braut noch im gleichen Jahr zum Traualtar führen würde.
Der große Streik
Unsere zweite Rundfahrt führt in den Südwesten der immerhin bis zu 583 Meter hohen, weitgehend baumlosen Insel. Beim heute leblosen Weiler Koutalas stehen völlig verrostete, schrottreife Lastwagen am Straßenrand. An den Hängen machen wir die ersten Überreste von ehemaligen Bergbauanlagen aus. Sie werden jetzt immer häufiger und prägender. Schon in der Antike wurde auf Serifos Eisenerz abgebaut. Die Relikte, die wir sehen, stammen freilich aus jüngerer Zeit. Schließlich kommen wir in den ehemaligen Hafenort Megalo Livadi hinunter, wo die Bucht noch immer von einer gewaltigen Verladeanlage geprägt wird. Hier steht hinter ein paar Palmen auch noch das relativ gut erhaltene, klassizistische Verwaltungsgebäude der alten Minengesellschaft, das 1916 im Mittelpunkt des Arbeiterstreiks stand, in dessen Verlauf Griechenlands erste offiziell anerkannte Gewerkschaft gegründet wurde.
Die Minengesellschaft, die 1869 die Lizenz zum Abbau des Eisenerzes erhalten hatte, wurde seit 1885 vom deutschen Mineralogen Emil Grohmann geleitet *. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn Georg, der 1915 griechischer Staatsbürger geworden war, die Leitung, im Zweiten Weltkrieg schließlich dessen Sohn Emil. Der trug während der deutschen Besatzungszeit 1943/44 auf Serifos gern eine SS-Uniform. 1951 wurde er wegen Kollaboration mit den Nazis, die das Eisenerz der Insel gut für ihre Waffenproduktion gebrauchen konnte, zwar angeklagt, aber nie verurteilt. Seine Spuren verlieren sich im Nachkriegsdunst.
In die Zeit Georg Grohmanns fällt der große Bergarbeiterstreik, der für ganz Griechenland bedeutsam wurde. Er begann am 7. August 1916. Bis zu 2000 Arbeiter waren da in den Bergwerksstollen und Verladeanlagen beschäftigt. Viele von ihnen kamen von anderen ägäischen Inseln, auf denen es kaum Lohnarbeit gab. Ein Arbeiterkomitee Übernahm die Verwaltung der Insel. Da die Geschäftsleitung nicht mit unorganisierten Arbeitern verhandeln wollte, gründete es offiziell eine Gewerkschaft. Inzwischen waren Polizeitruppen nach Serifos geschickt worden. Am 21. August 1916 kam es zu heftigen Kämpfen zwischen den gut bewaffneten Gendarmen und den Arbeitern. Vier Arbeiter starben, dazu drei oder vier Polizisten. Schließlich wurde der Arbeitskampf aber friedlich beigelegt. Die Werktätigen hatten die 40-Stunden-Woche, bessere Bezahlung und eine bessere Altersvorsorge erkämpft. Ein Denkmal an der Nordseite der Hafenbucht von Megalo Livadi erinnert an die toten Arbeiter. Den getöteten Polizisten hat man keins gesetzt.
Hier fanden 1915 die ersten griechischen Streiks statt.
Wandersleut’
In den Strandtavernen an der Bucht erinnert nichts an jene Ereignisse. Beim Essen treffen wir eine Wandergruppe aus der Schweiz, die schon seit 35 Jahren alljährlich einmal Hellas zu Fuß erkundet. Sie ist jetzt schon seit zehn Tagen auf der Insel unterwegs und berichtet, die Wanderpfade seien gut gepflegt und ausreichend markiert, das Wandern auf Serifos sei ein Vergnügen. Später erfahren wir, dass die Tauchschule der Insel auch geführte Wanderungen anbietet. Eine von ihnen verläuft zu einem großen Teil unterirdisch: Man tastet sich dabei stundenlang durch die alten Bergwerksstollen von einer Bucht zur anderen. Wir hatten weder Zeit noch Mut, das auszuprobieren – aber vielleicht kann uns ja bald eine/r unserer LeserInnen davon berichten?
Von Klaus Bötig
INFO
Website: www.serifosisland.gr (kommerziell)
Fährverbindungen: Mehrmals wöchentlich mit Piräus. Außerdem u. a. mit Kythnos, Sifnos, Milos, Ios, Santorin, Paros.
Geführte Wanderungen: www.serifosscubadivers.gr
Inselkarte: Anavasi, 1:25 000, mit auf der Insel markierten Wanderwegen, www.anavasi.gr
* Die Geschichte der Familie Grohmann ist in dem Buch aus dem Verlag der Griechenland Zeitung „Deutsche Spuren in Griechenland. Der Beitrag der deutschen Einwanderung im 19. Jahrhundert zur Entwicklung Griechenlands“ (Athen 2018) enthalten. Infos und Bestellung im E-Shop unserer Webseite www.griechenland.net oder unter Tel. +30 210 6560989.
Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 638 am 01. August 2018.