Eine Woche ohne Reiseplan. Einfach morgens ans Steuer gesetzt, auf der Karte ein Dorf in der Nähe gewählt – und schon geht es los. Mal sehen, was es heute zu entdecken, zu erleben, zu genießen gibt.
Mein Standquartier ist Georgioupolis, ein großes Dorf am Meer zwischen Rethymnon und Chania. Durch eine lange Eukalyptusallee, vor über 100 Jahren gepflanzt zur Entwässerung des sumpfigen Bodens, geht es ins Binnendorf Vrysses. Wegweiser stehen da mehr als genug. Viele griechische Bürgermeister scheinen mit Schilderfabrikanten befreundet zu sein. Wir folgen dem mit dem kompliziertesten Ortsnamen: Emprosneros. In Reiseführern wird er nicht erwähnt.
Höhlenkapelle des Eremiten in Emprosneros - offen am 24. Juli
Theater im Nirgendwo
Nach fünf Kilometern scheint das Dorf zu beginnen. Wieder einmal ein Schild: „Nature Path – Municipal Theatre Kremastos“. Klingt vielversprechend. Wir öffnen ein Tor, kommen 30 Meter weit. Der Pfad endet im ohne Machete undurchdringlichen Dickicht. Wir fahren weiter. Nach zwei Minuten wissen wir, was der Wegweiser meinte. Links unter uns dämmert ein großes, schön angelegtes Freilufttheater vor sich hin, in dem wohl 500 Zuschauer Platz finden könnten. Meine Freunde in der Umgebung haben noch nie davon gehört. Und gleich auf der anderen Seite der ungenutzten, teuren Kulturfläche klebt eine zweigeschossige Kirche am Fels. Ein kurzes Sträßlein führt hin. Nach ein paar Stufen stehen wir an der Kirchentür. Sie ist unverschlossen – sicherer Hinweis darauf, dass man hier noch keine schlechten Erfahrungen mit Durchreisenden machte. Zur Hälfte ist sie in eine Felsgrotte hinein gebaut. Vor der Ikone des hl. Antonios hängen zahlreiche Votivtäfelchen. Er wirkt also noch Wunder. Wir entzünden eine Kerze, werfen den Obolus dafür in den Geldschlitz. Unter der Hauptkirche finden wir eine zweite heilige Stätte, ohne Türen, mit einem Felsüberhang als Regenschutz. An den Ikonen erkennen wir, dass sie einem Eremiten namens Johannes geweiht ist.
Für wen? - Das Theater von Emprosneros
Wir fahren ins Dorf Emprosneros (320 Einw.) hinein. Drei Männer sind gerade dabei, Maulbeerbäume zu beschneiden. Die abgeschnittenen Äste werden auf einen Pick Up gelegt – Zusatzfutter fürs Vieh. Wir fragen nach dem Dorfkafenion. „Geschlossen“, lautet die Antwort, „aber wartet, wir machen gleich einen Kaffee“. Wir kennen des kretische „Gleich“, bedanken uns und fahren 500 Meter weiter. Da sind wir am Dorfplatz. Eins der beiden Kafenia steht offen. Epimenides kommt mir in den Sinn. Mit seinem Satz „Alle Kreter sind Lügner“ hat der Philosoph vor 2500 Jahren der Welt ein unlösbares Paradoxon gestellt. Er selbst war ja Kreter.
Siegreiche SfakiotenSiegreiche Sfakioten
Die Maulbeerbaumbeschneider haben irgendwie aber doch die Wahrheit gesagt. Auf dem Dorfplatz parkt ein Leichenwagen. Der junge Wirt serviert uns noch Wasser und zwei Kafedakia, bittet aber um sofortige Bezahlung (2 Euro). Die Totenträger tragen den zuvor zu Hause Aufgebahrten zu ihrem Gefährt, im Kafenion erheben sich alle Anwesenden von den Plätzen, der Wirt verschließt die Tür. Immer mehr Autos parken den Dorfplatz voll: Trauergäste. Wir machen uns wieder einmal auf den Weg. Erst einmal zu Fuß, denn ein brauner Wegweiser hat uns auf das „Castle of Alidakis“ aufmerksam gemacht. Wie bei Schildern der Altertumsverwaltung üblich, fehlt jede Entfernungsangabe. Schon nach 100 Meter sind wir am Ziel.
Die Burg des Alidakis entpuppt sich als einst sehr wehrhaftes Haus. Hier lebte im 18. Jahrhundert ein wohlhabender kretischer Muslim als Gutsherr. 1774 griffen mutige christliche Rebellen aus der Sfakia die Burg an. Ihnen war zu Ohren gekommen, Ibrahim Alidakis plane, die Sfakia zu erobern und ihre Herden zu stehlen. Nach kurzem Kampf töteten sie Ibrahim Alidakis und 200 seiner Söldner. Ihre eigenen Verluste beliefen sich auf 18 Männer und 2 Frauen. Wieder einmal hatten sich die Sfakioten als wilde Widerstandskämpfer bewährt. Seit 2015 ist die mächtige Ruine nun teilweise eingerüstet. Sie wird mit einem Etat von 300.000 Euro restauriert und soll demnächst wieder zugänglich sein. „Demnächst“ – auch wieder so ein kretisches Wort wie „gleich“ ...Wir wechseln kurz darauf die Seite. Überqueren die Hauptstraße von der Nordküste hinauf zur Omalos-Hochebene mit dem Eingang zur Samaria-Schlucht, auf der sich an jedem Sommermorgen wahre Buskarawanen bewegen, fahren 1500 Meter bergab und vertrauen dann darauf, dass uns der blaue Wegweiser mit der Aufschrift „Alikambos“ wieder einen schönen Stopp beschert.
Sekunden später trauen wir unseren Augen nicht. Direkt an der Straße liegt schon wieder eine Burg. Sieht aus wie neu. Kein Hinweisschild, kein geöffneter Eingang, absolut leblos. Im nächsten Dorf fragen wir danach. Niemand gibt uns eine richtige Antwort. Irgendjemand aus dem Dorf hat sich da dieses Anwesen vor ein paar Jahren gebaut. Warum, das weiß man nicht. Sollte die Burg ein Nachtclub werden? Ein Feriendorf? Eine private Villa für Reiche? Ehe ein Kreter schlecht über Andere redet, schweigt er lieber ...
Ein weiterer der braunen Wegweiser, mit denen Kreta wie andere Teile Griechenlands auch von Archäologen und Gläubigen aufgeforstet wurde, bringt uns zur „Church of the Koimesi“, also einer Marienkirche. Sie ist verschlossen, doch direkt am Parkplatz überrascht uns ein uralter Brunnen mit sieben steinernen Waschtrögen. Gleich daneben bietet ein moderner Brunnen zwei Hähne zur Auswahl an. Laut Beschriftung fließt aus dem rechten Trinkwasser, während man das aus dem linken Hahn besser nicht genießen sollte. Wir bedanken uns still für den Hinweis und trinken aus keinem von beiden.
Trickreiche Volkszählung
Auf der Platia von Alikambos (260 Einw.) gönnen wir uns dann eine ausgiebige Rast. Zwei moderne Kafenia, die zugleich Gemischtwarenhandlungen sind, sehen einladend aus. Der Wein wird noch ganz traditionell aus Holzfässern gezapft, der Rakí gleich schräg gegenüber in einer Garage destilliert. Aktive Sportler können auf einer der beiden Kaffeehausterrassen Tischfußball spielen, passive Sportler Profis auf großen Flachbildschirmen bei ihrer Arbeit beobachten. Eine Schule gibt es im Dorf längst nicht mehr, die letzten Dorfkinder werden zum Unterricht nach Vrysses gebracht.
Kafenio in Alikambos: Gut für eine Fußballpause
Ganz unerwartet finden wir später ein Dorf weiter das schönste Kafenio des Tages. Wir sind in Maza gelandet. 360 Menschen haben sich bei der letzten Volkszählung 2011 als Einwohner registrieren lassen. Anwesend ist nur die Wirtsfamilie. 20 Familien aus dem Dorf leben in München, Stuttgart und Hamburg, erzählt uns der Kaffeehausbesitzer. Im Dorf selbst sind nur noch etwa 50 Menschen ganzjährig zu Hause. Die anderen 310 haben sich nur aus alter Verbundenheit als Einwohner registrieren lassen – und für den Fall, dass einmal öffentliche Förderungsmittel analog zur Einwohnerzahl jedes Dorfes vergeben werden. Das war bei der Volkszählung 2011 überall im Lande üblich.
Fast 700 Jahre alt - Fresken in der Kirche von Maza
Dem Kafenio direkt gegenüber steht das kleine Kirchlein des hl. Nikolaus offen. „Die hat's da schon seit 1325“, erklärt uns der Wirt. Ein Hagiograph namens Johannes Pagomenos hat die schlichte Einraumkapelle in jener Zeit auch ausgemalt; die Fresken sind erstaunlich gut erhalten. Aber das ist in über Tausend Kirchen und Kapellen auf der Insel der Fall. Uns beeindruckt mehr das Einzigartige an diesem Kafenio: Seine Terrasse ist von Bougainvilleen so üppig dicht umrankt, dass man es von außen kaum erkennen kann. Da sitzt man inmitten von Blüten- und Farbenpracht.
Zurück nach Georgioupolis sind es jetzt nur noch zehn Minuten Fahrt. Wir parken am Meer und schauen auf den Tachometer: Wir haben heute in sieben Stunden gerade einmal 21 Kilometer zurückgelegt, viel erlebt und in der ganzen Zeit keinen anderen Urlauber getroffen. Die waren wohl alle in der Samaria-Schlucht, in Knossos, am Palmenstrand von Vai. Doch so weit muss man gar nicht fahren. Dörfer wie die heute von uns besuchten gibt es im Hinterland aller Urlaubsorte zuhauf.
Text von Klaus Bötig