Nach Leros verschlägt es nur wenige Mitteleuropäer. Umsteigemuffel meiden die Insel wegen fehlender Direktflüge, Hobby-Archäologen werden kaum fündig, selbst die Strände sind eher dürftig. Leros lässt sich nicht konsumieren, man muss sich seine ganz besonderen Eigenarten und Reize selbst erarbeiten.
Ländliche Atmosphäre früherer Zeiten
Die ältere Türkin in meinem kleinen Strandhotel in Alinda ist aus Istanbul für fünf Wochen nach Leros gekommen. Ihre Kindheit hat sie in Bodrum an Kleinasiens Küste gegenüber der Insel Kos verbracht. „Auf Leros“, sagt sie, „habe ich die ländliche Atmosphäre jener Zeit wiedergefunden“. Auch der Grieche aus Kaliforniens „Silicon Valley“, der mit seiner gerade volljährig gewordenen, überhaupt kein Griechisch mehr sprechenden Tochter für ein paar Tage hier zu Gast ist, zeigt sich begeistert. Jeden Abend sucht er sich eine Taverne mit griechischer Live-Musik, während die junge Frau eifrig Tagebuch schreibt.
150 Jahre im Zeitraffer
Der Tourismus steckt auf Leros noch in den Kinderschuhen. Staatsnahe Dienste ernähren die Insulaner. Die Fremden sind nur für ein Zubrot gut. Die bewegte griechische Geschichte der letzten 150 Jahre wird auf keiner anderen Insel des Dodekanes besser greifbar als hier. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren viele Lerier nach Ägypten ausgewandert, das wie ihre Heimat ja auch Teil des Osmanischen Reichs war. Linienschiffe zwischen Alexandria und Istanbul machten regelmäßig hier fest. Zwischen 1880 und 1935 kehrten viele der Emigranten auf ihre Heimatinsel zurück und bauten sich häufiger prächtige Villen, die zum Teil immer noch stehen. Die Italiener, die 1912 den gesamten Dodekanes besetzten, machten die Insel wegen ihrer tiefen, windgeschützten Buchten zu ihrem bedeutendsten Marinestützpunkt in der Ägäis. Sie erbauten nicht nur Kasernen, Hangars für Wasserflugzeuge und Lagerhallen, sondern planten auch eine ganz neue Stadt: Lakki wurde so zur einzigen Stadt auf den griechischen Inseln, die von europäischen Architekten am Reißbrett entworfen wurde. Anders als auf Rhodos und Kos, wo sich die italienischen Bauten eher orientalisierend und verspielt geben, waren die Architekten in Lakki stark vom „Internationalen Stil“ beeinflusst, setzten auf asymmetrische Formen, kubische Baukörper, weißen Verputz und lange Fensterfronten fast ohne Ornamente. Besser als in Lakki kann man ihn weltweit kaum irgendwo studieren.
Bizarrer Gartenschmuck
Nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands durch Italien 1943 wurde Leros von britischen Truppen besetzt. Daraufhin begann die deutsche Luftwaffe, die Insel heftigst zu bombardieren. Nach 52 Tagen ergaben sich die Commonwealth-Truppen. Ihre 183 Toten sind auf einem Militärfriedhof am Dorfrand von Alinda bestattet. Bomben und Granaten, die damals Angst und Schrecken verbreiteten, dienen heute vielen lerischen Grundstücken als bizarrer Schmuck für Gärten und Terrassen. Ein etwa 200 Meter langer Tunnel, den die Italiener graben ließen, dient heute als Kriegsmuseum. Da kann man einen kurzen Film über die Bombenangriffe sehen, alte Fotos und viele Militaria. Nachdem die 14.000 deutschen Besatzungssoldaten Leros 1945 verließen, standen die italienischen Kasernen nicht lange leer. In Griechenland tobte ja noch der Bürgerkrieg. Die letztlich siegreichen Bürgerlichen brachten in den Kasernen nun ihre berüchtigten „Königlichen Technischen Schulen“ unter – grausame, streng antikommunistische Umerziehungsanstalten für Kinder linker Partisanen und Politiker. Ein paar Jahre später standen die Kasernen wieder leer. Nun funktionierte man sie zu Griechenlands größter Psychiatrischer Klinik um. Ein Großteil der lerischen Bevölkerung fand dort Arbeit, andere verdienten Geld mit Handwerksdienstleistungen und als Zulieferer. Die Kliniken sind bis heute bedeutendster Arbeitgeber der Insel.
Der Stand von Alinda - sicher kein Traumstrand.
Expressionistische Kapelle
Während der Zeit der Militärdiktatur (1967-1974) fand sich auch für bis dahin noch leer stehende Kasernen eine neue Verwendung. Sie dienten in jenen Jahren als Internierungslager für politische Häftlinge. Alles, was heute noch an jene Zeit erinnert, ist die kleine Kirche der Agia Matrona im Inselnorden, die von drei Häftlingen teilweise ausgemalt wurde. Ihre biblischen Szenen haben kaum etwas mit traditioneller byzantinischer Sakralmalerei zu tun, erinnern an Expressionismus, an Ernst Barlach sogar. Das ganze Leid der Inhaftierten wird in ihnen lebendig.
2015 waren die alten Kasernen dann erneut wieder für eine Problemlösung gut: Flüchtlinge konnten hier Unterkunft finden. Das Containerdorf, einer der griechischen Hot Spots, zwischen Kasernen und den Bungalows von Patientenwohngemeinschaften, hat sich inzwischen weitgehend geleert, wird aber wohl noch jahrelang für den eventuellen Bedarf erhalten bleiben.
Ein ungewöhnlicher Christus, gemalt von Junta-Häftlingen.
Unterwegs auf der Insel
Leros ist per Fähre leicht zu erreichen. Die schnellen Katamarane, die zwischen Rhodos, Kos, Ikaria und Samos unterwegs sind, legen hier fast täglich an, hinzu kommen lokale Boote, die zwischen Kalymnos, Leros, Patmos und Lipsi pendeln. Fast immer steuern sie den kleinen Inselhafen von Agia Marina an. Den weitaus größeren Hafen von Lakki nutzen nur die großen Fähren nach Piräus. Steigt man in Agia Marina an Land, hat man schon die touristisch wichtigsten Orte vor Augen: den Badeort Alinda mit seinem zwar langen, aber extrem schmalen Sand-/Kiesstrand und den traditionellen Hauptort Platanos, den eine mächtige Burg aus den Zeiten der Johanniterritter überragt. Wie auf allen Inseln des Dodekanes hatten die auch hier zwischen 1209 und 1521 das Sagen.Im Vorhof der Burg steht das ehemalige Kloster der Panagia tou Kastrou. Gleich hinterm Konvent hat sich für Georgios ein Lebenstraum erfüllt. Er wuchs in den USA auf, wollte eigentlich Theologie studieren. Seine Eltern hielten das für eine brotlose Kunst, er arbeitete fortan für große Reedereien. Nach Leros zurückgekehrt wendete sich sein Schicksal: Er wurde als Kurator des kleinen Ikonenmuseums in der Burg engagiert. Da erklärt er Besuchern jetzt leidenschaftlich gern alle ausgestellten Ikonen, überrascht mit so aus Griechenmund noch nie zuvor gehörten Interpretationen. Er hat all seine Schätze abfotografiert, zoomt für Interessierte die Ikonen-Details, über die er gerade in bestem Amerikanisch doziert, auf seinem Samsung-Tablet heran.
Der Umgang mit einem Tablet ist meinem Autovermieter fremd. Ich fand ihn in seinem Supermarkt gleich neben seinem Vermietbüro. Mehr als meine Führerscheindaten schrieb er nicht in den Vertrag, Kaution und Kreditkarte waren für ihn kein Thema. Ich gab ihm 30 Euro fürs Auto. Den Wagen sollte ich einfach am nächsten Tag auf dem Fähranleger abstellen, Schlüssel unter der Fußmatte. Abends saß der Mann mit seiner Frau in der Taverne an meinem Nebentisch. Ich wurde sofort herüber gebeten und musste ihr Mahl mit ihnen teilen. Der gefüllte Kalamar war super!
Ankunft in Agia Marina.
Am breitesten Sandstrand
Vieles scheint auf Leros noch althergebracht. Überall kommt man mit den Menschen schnell ins Gespräch. Panos, der junge Hotelmanager aus Piräus, erzählt mir von seinem großen Traum: Einer langen Island-Rundreise. Frideriki in der Taverne am Strand von Plefoutis berichtet mir ausführlich von ihrer Zeit Anfang der 1970er Jahre in Bremen-Vegesack und erklärt mir auch ihren Vornamen: Ihr Taufpate war ein Königstreuer, Frideriki hieß in ihrem Geburtsjahr die hellenische Queen. Den kleinen Strand des Immer-noch-Fischerdorfes Pantelis säumen neun Tavernen; fast alle haben Tische und Stühle direkt auf das Kiesband gestellt. Wer schwimmen will, badet zwischen ankernden und an Bojen vertäuten Fischerbooten.
Mit dem Mietwagen oder -moped kann man ganz Leros an einem einzigen Tag erkunden. An der Bucht von Gournas mit dem breitesten Sandstrand der Insel erinnert ein weißes Kapellchen des heiligen Isidoros auf einer über einen schmalen Damm mit dem Festland verbundenen Felsscholle an die ganz ähnlichen Kirchlein von Vlacherna auf Korfu und Agios Nikolaos im kretischen Georgioupolis. An der Bucht von Xirokambos führen Stufen hinunter zur Kapelle der Panagia tis Kavouradenas. Sie wurde im letzten Jahrhundert in eine Felsnische gleich am Wasser hineingebaut. Ihren Namen „Allheilige von den Krebsen“ verdankt sie angeblich den hier an den Küstenfelsen häufigen Schalentieren. Eine 1993 gemalte, von der Ikonographie her einzigartige Ikone zeigt denn auch Maria und das Kind vor dem Hintergrund eines großen Krebses. Und auf dem 80 Meter hohen Hügel am nordöstlichen Dorfrand von Xirokambos steht die Kapelle Panagia sto Paleokastro aus dem 11. Jahrhundert über den bedeutendsten antiken Überresten der Insel. Fünf Lagen der aus gleichmäßig behauenen Quadern errichteten Mauern eines hellenistischen Wachtturms sind hier erhalten. Schön ist von hier aus der Blick hinüber nach Kalymnos, der so nahen und doch anderen Schwester.
Text von Klaus Bötig