Samarina, im westgriechischen und gebirgigen Landstrich Epirus, nur einen Katzensprung von der albanischen Grenze entfernt, kann sich rühmen, das höchst gelegene Dorf des Balkans zu sein.
Als der Besitzer eines Käseladens in Thessaloniki mir einen schönen Tages ein Stück Schafskäse von Samarina zum Probieren anbot, hörte ich zum ersten Mal von diesem Ort. Erst viel später erfuhr ich, als ich selbst dorthin reiste, dass die meisten Schäfer dieses Bergdorfs ihre Milch längst nicht mehr selbst zu Käse verarbeiten. Inzwischen müssen sie an Großhändler verkaufen, um zu überleben. Ihre Herstellungsmethoden genügen den europäischen Standards nicht mehr. Selbstgemacht wird der Schafs- und Hartkäse nur noch für den Eigenbedarf. Und nur selten wird er an Touristen verkauft, die sich nach Samarina verirren – Eine von diesen war ich. Ich wollte die vielgelobte Bergstimmung Samarinas selbst einfangen.
Pures Naturerleben
Meditative Ziegen- und Schafsbockglocken, aufgeregtes Vogelgezwitscher, ein Hahnenschrei. Und wenige Sekunden später ein zweiter. Das leise Tappen eines Esels auf dem Asphalt, dezent, so als wollte er nicht stören; mit wackelndem Schwanz, zick, zack, zick, zack, und in Schritttempo bewegt sich das Tier am frühen Morgen aus dem Ort hinaus, um pünktlich bei Sonnenuntergang wieder zurückzukehren. Einen Esel gleich nach meiner Ankunft in Samarina anzutreffen, empfand ich als glücksbringend. Ich hatte seit Jahren keinen freilaufenden mehr gesehen. Das Gefühl, im höchstgelegenen Bergdorf des Balkans anzukommen, hatte mit Frieden zu tun. Eine derartige Seelenruhe! Den eigenen Atem lautstark zu vernehmen, das Summen einer Fliege, ja dieses unlaute Leise war befremdlich und entspannend zugleich. Doch es brauchte nicht lange, bis ich den ersten Samarinioten traf – auf 1.650 Metern Höhe.
Dimitris, der Hotelier
Da ist der um die 50 Jahre alte Dimitris Tsangouris. Kind dritter Generation in Samarina. Zwischenzeitlich sei er für kurze Zeit in Deutschland gewesen. Ungewöhnlich, wie ich finde, für einen Wlachen. Dieser Volksstamm ist kaum in den Gastarbeiterjahrzehnten emigriert. Auch Dimitris ist nur ganz kurz aus Samarina weggeblieben, hat Erfahrungen in der Tourismusbranche gesammelt und kehrte zurück in den Heimatort, um sich einen Traum zu erfüllen. Das war 2008. Der Traum steht heute imposant am Ortseingang von Samarina. Das Samarina Resort kann es mit allen anderen 4- bis 5-Sterne-Hotels in Griechenland aufnehmen. Da fehlt es an Nichts. Nur an ausreichend Gästen. Bis auf die wenigen Tage im Sommer und dann während der Skisaison am nahegelegenen Vasilitsa-Berg wohnt nur selten jemand bei Dimitris. Ich bin bei meinem Besuch der einzige Gast gewesen, weswegen ich die Ruhe ganz besonders genoss.
Ein Streifzug durch das Dorf
Samarina, im westgriechischen und gebirgigen Landstrich Epirus, nur einen Katzensprung von der albanischen Grenze entfernt, ist schnell erkundet. Ungefähr 200 Häuser, einige kleine Pensionen, ein Hotel, ein Ortszentrum mit wenigen Tavernen, ein Café, ein Bäcker (der im Winter geschlossen hat), ein Souvenirladen, ein Käseladen und in der Mitte des Platzes ein 90 Jahre alter Walnussbaum. Dazu noch unzählige Wasserstellen im gesamten Ort. Oberhalb von Samarina entspringt das beste und reinste Quellwasser, das ich jemals getrunken habe. Entlang des Bergbachs wachsen Orchideen und sogar wilden Safran habe ich auf der Wiese der ehemaligen Grundschule selbst pflücken können. Das heute leerstehende Schulgebäude hatte im vergangenen Jahrhundert noch viel zu tun. Samarina besaß damals zehn Lehrer, Ärzte, eine direkte Busverbindung nach Grevena, mehrere Priester für seine zehn Kirchen und jedes Haus glich einer Kunstwerkstatt. Die Samarinioten stellten alles selbst her, was sich aus dem Fell, dem Leder, dem Fleisch und der Milch ihrer Tiere gewinnen ließ. Und sie waren sogar als gute Goldschmiede bekannt. Heute überwintern nur höchstens 40 Personen in dieser Einöde. Samarina ist nur am 15. August komplett überfüllt.
Samarinas Landschaft wirkt auf den Betrachter mystisch
Helden mit einer eigenen Sprache
Die Wlachen werden in Westeuropa Aromunen genannt. Ein Hirtenvolk, das vermutlich im ersten vorchristlichen Jahrhundert in Rumänien entstanden ist, um sich irgendwann im westgriechischen Gebirge niederzulassen, so mutmaßen die Wissenschaftler. Obwohl die Wlachen auf dem gesamten Balkan zu finden sind, existieren die größten Gemeinden nur in Griechenland. In Epirus, Makedonien und der thessalischen Tiefebene. Im griechischen Befreiungskampf gegen die Osmanen und in den beiden folgenden Weltkriegen sind sie als große Patrioten in die Geschichte eingegangen. Zahlreiche Gedenkstätten erinnern den Besucher daran. Vor allem aber berichten die Wlachen in ihren Liedern darüber. Ursprünglich als Klagegesänge entstanden, sind diese heute aus der traditionellen griechischen Volksmusik einfach nicht mehr wegzudenken. So wie das Lied „Hoch oben in Samarina“ (Psilá stin Samarina).
Die Sprache der Wlachen ist bis heute ebenfalls ein interessanter Forschungsgegenstand für Sprachwissenschaftler, wobei noch immer nicht gänzlich nachgewiesen werden konnte, wie sie entstanden ist. Sie ähnelt dem Rumänischen, besitzt aber auch lateinische Silben, die sich inzwischen mit griechischen Sprachelementen vermischt haben. Es ist eine mündlich tradierte Sprache ohne eigenes Alphabet. Wenn ich in Samarina den Wlachen zuhöre, verstehe ich ehrlich gesagt kein einziges Wort. Zum Glück sprechen sie hier oben alle auch fließend Griechisch.
Begegnung mit dem alten Giorgos
Im Zentrum Samarinas treffe ich zufällig den 76-jährigen Giorgos Kiakas, der als Rentner nicht nur Zeit hat. Er entpuppt sich auch noch als geschickter Erzähler und ist froh, dass er von seinem Heimatort erzählen darf. Zum Beispiel darüber, dass Samarina früher schon über seine Grenzen hinaus bekannt war. „Wenn man früher fragte, wo denn Grevena liegt, das 50 Kilometer entfernte Kleinstädtchen, wo wir jetzt immer zum Tanken und Einkaufen hinfahren, weil wir keine eigene Tankstelle im Ort besitzen, dann pflegte man immer zu antworten: Grevena liegt bei Samarina. Um 1904 lebten hier über 5.000 Menschen, während Grevena lächerliche 500 Einwohner besaß“, betont Giorgos und seine blauen Augen beginnen zu strahlen.
Der Berg braucht starke Nerven
Ab Oktober wandern die Samarinioten, die meisten von ihnen sind bis heute Schafs- und Ziegenhirten, mit ihren zirka 70.000 Schafen hinunter ins Tal, um zu überwintern und sie kommen erst wieder zum kommenden Frühling herauf. Ab Oktober könne man in Samarina nur noch den Wind heulen hören. Dann brennt nur in höchstens 20 Häusern nachts das Licht. Fast totenstill sei es in den schmalen Gassen. Und das könnte noch lange nicht jeder aushalten, betont der freundliche Giorgos. „Der Grund, warum ich hier oben leben kann, ist: Ich habe mich den Bedingungen angepasst. Du brauchst schon ziemlich starke Nerven, um hier zu existieren. Und du musst das hier oben lieben. Wenn Du im Frühling hier morgens die Vögel hörst, da erhebt sich deine Seele. Im Winter sitzt du im Haus und beobachtest die Schneeflocken und auf einmal hat es fast zwei Meter geschneit. Und das in Griechenland! Die Natur gibt dann ein ganz eigenes Geräusch wieder. Es ist, als würde dir jemand das Hirn sauber filtern.“
Kurz vor meiner Weiterfahrt will Giorgos mit mir noch schnell zur Megali-Panagia-Kirche laufen. Dort würde auf dem Dach der Apsis ein Fichtenbaum wachsen, der seine Wurzeln weder im Kircheninnern noch draußen in der Erde hat. Seine Wurzeln hätten sich nur auf dem Kirchendach ausgebreitet. Ein seltenes Phänomen! Herr Giorgos glaubt, dass es solch einen Fichtenbaum kein zweites Mal auf der Welt gibt. Eben wie Samarina auch.
Ein Baum wächst auf dem Dach der Dorfkirche
Text und Fotos von Marianthi Milona