Die kleine Fähre aus Paleochora nähert sich dem kargen felsigen Eiland. Tiefes Tintenblau unter uns, eine feste Hafenmauer vor uns, wenige Häuser säumen den Hafen von Gavdos. Wir fahren auf die südlichste Insel Europas – ungefähr 40 Kilometer vom kretischen „Festland“, etwa 120 Kilometer entfernt vom der libyschen Küste. Selbst wenn man meint zu wissen, wie griechische Inseln so etwa sind, diese hier ist eine ganz besondere Erfahrung mit einer einzigartigen Natur.
Nur wenige Touristen steigen mit uns aus. Es ist Ende Mai, die Saison hat hier noch nicht begonnen, wenn sie hier überhaupt jemals Einzug hält. Wir sind vorgewarnt: Es gibt nur wenige, weitgehend verlassene Ortschaften, nur einige einfache Unterkunftsmöglichkeiten, ein sehr beschränktes Angebot an Tavernen, die auch nicht immer das Gewünschte anbieten können, denn auf der Insel wird nicht viel Essbares produziert und das meiste wird von Kreta aus herüber gebracht. Der Inselbus (der einzige!) bringt uns in kurzer Zeit herunter zur wunderbaren langen Sandbucht Sarakiniko, dem „Sarazenenstrand“, dann fährt er noch eine Bucht weiter nach Agios Ioannis, wo es oben auf dem Felsen Unterkünfte gibt, die vor allem junge Leute bevorzugen. Die meisten wollen dort aber wild campen, ein beliebter Treffpunkt für hier hängen gebliebene Althippies und Aussteiger auf Zeit – ein buntes Völkchen, Rastazopfträger, mit dicken bunten Glasperlenketten behangene Männer in unkonventioneller Kleidung, ganz wie in den späten 1960er Jahren. Tolerant sind Griechen traditionell schon aus ihrem Selbstverständnis heraus. Wild campen ist eigentlich verboten, erst recht in einem Landschaftsschutzgebiet. Nur: Wer hätte das Herz, diese Leute zu vertreiben?
Einkehren am Strand der Sarazenen
Wir bleiben in Sarakiniko, bei der ersten besten Adresse, in einem Bruchsteinmauerhäuschen direkt am Strand im schönen Garten der Fischtaverne. Eine gute Wahl! Gerti, unsere Wirtin aus Österreich, verrät uns, dass ihr Mann, der Fischer Manolis, täglich abends hinausfährt und mittags reichlich frischen Fisch mitbringt. Es scheint hier doch ein ertragreiches Fischfanggebiet zu geben, anders als wir es auf Kreta erfahren haben, denn wir können aus mehreren prächtigen Exemplaren verschiedener Sorten auswählen. Kundig gegrillt und mit Zitronen-Olivenöl-Soße beträufelt – eine Köstlichkeit! Der Blick von der Terrasse über Oleanderbüsche und Schilf aufs glitzernde Meer, der Blick auf die Lefka Ori und das kretische Küstengebirge sind nicht die einzigen Attraktionen. Der natürliche, saubere Sandstrand mit dem klaren warmen Wasser ließe sich auch auf anderen Inseln finden, nicht aber das ausgedehnte Dünengelände mit den dichten alten Wacholderbäumen und Kiefern. Flora und Fauna zweier Kontinente begegnen sich hier, man muss nur erst den Blick dafür schärfen, um die Besonderheiten zu entdecken. Viele verschiedene Vögel schwirren durch die verschiedenen Arten von Juniperus-Büschen. Wenn wir noch einmal herkommen, müssen wir unbedingt ein Vogelbestimmungsbuch dabei haben.
Bucht von Sarakinos
Einsame Überbleibsel früherer Siedlungen
Gavdos teilt die Geschichte Kretas. Mit Sicherheit gibt es Siedlungsspuren seit dem Neolithikum bis heute, minoische, hellenistische, römische, byzantinische, osmanische, venezianische und türkische Relikte, aber ausgegraben ist bisher nichts. Mit geringer Wahrscheinlichkeit ist Gavdos die Insel Ogygia, wo die Nymphe Kalypso Odysseus festhielt, auch wenn die Einheimischen davon voll überzeugt sind. Der Mythos lebt! Wir brauchen ihn nicht. Uns zieht die Gegenwart an.
Wenn man die vielgestaltige kleine Insel kennen lernen will, muss man sich nach Alternativen umsehen. Der einzige Bus allein tut es nicht. Man kann sich zu Fuß auf eine Erkundungstour begeben, wenn man sich nicht von der Hitze abschrecken lässt. Die ganze Insel ist von zahlreichen Pfaden durchzogen, ein echtes Wanderterrain. Richtig verlaufen kann man sich nicht; rührende, handgemalte Schilder weisen den Weg, blaue Punkte oder Steinmännchen. Meist kann man auf Sicht gehen. Zum Kap Tripiti führt vom Korfos-Strand ein ausgezeichneter Wanderweg hinab. Das Kap ist die Hauptattraktion der Insel, wohin alle gern einmal gelangen wollen, um den überdimensionierten Stuhl, der das südlichste Ende Europas markiert, zu fotografieren.
Per Anhalter zu fahren, verbietet sich aus Mangel an Gelegenheiten. Es gibt nur wenige Autos hier und die meisten sind Kleinlaster für die Landwirtschaft. Es gibt Roller zu mieten, sogar einige wenige Leihwagen. Nur: Es fehlt an Straßen, die diese Bezeichnung zu Recht tragen. Überwiegend handelt es sich um ausgefahrene Feldwege, holprige Schotterpisten, auf denen man sehr langsam fahren muss. So hat man Zeit, die wunderbaren Ausblicke zu genießen, hinüber nach Kreta, aufs libysche Meer, auf Buchten, auf Kapellen und Kirchlein, die überall verstreut wie Orientierungsmarken stehen – einsame Überbleibsel früherer Siedlungen oder Klöster. Überall blüht Thymian, der Duft von Sommer und Sonne verströmt.
Hier hat man nicht alles in der Hand
Der kahle Teil der Insel im Westen und Norden fällt steil und felsig zum Meer ab – eine Steinwüste. Der Süden ist ebenfalls felsig und kahl, einsam und unbewohnt. Die Inselmitte hingegen ist vergleichsweise richtig grün, bewachsen von niedrigen Kiefern und echtem Pinienwald. Dort liegen auch alle Dörfer, in früheren Zeiten aus Furcht vor früheren Piratenüberfällen errichtet. Meist sind nur ein, zwei oder drei Häuser bewohnt, der Rest besteht aus verfallenen Gebäuden, romantische oder traurige Reste ehemaliger Besiedlung. Das komplizierte griechische Erbrecht verhindert oft, dass alte Gemäuer wieder aufgebaut und genutzt werden können. Manchmal gibt es vielleicht bis zu 100 Erben. Wie soll man sich da einigen? Jene, die Gavdos verließen, leben nun verstreut: auf Kreta, vor allem in Paleochora, in Athen oder sonstwo in der Welt. Nur noch etwa 50 Einwohner verbleiben ständig auf der Insel. Doch wovon können die Menschen hier hier Lebensunterhalt fristen? Die Landwirtschaft ist beschwerlich und wenig einträglich. Man versucht, Nebeneinkünfte durch EU-geförderten Agrotourismus zu erzielen, aber wenn Touristen irgendwo weitab vom Strand wohnen, brauchen sie wiederum ein Fahrzeug, einen Supermarkt und eine Taverne, eine touristische Infrastruktur. Eine solche nur für wenige Sommerwochen zu schaffen, wäre unwirtschaftlich, das leuchtet ein. Auf einer derart abgelegenen Insel kann man ohnehin schlecht planen. Manchmal ist die See so rau, der Wind so stark, dass die Fähren nicht ablegen können. Nicht planen zu können, das widerspricht unserer modernen Idee vom Leben, unserer Vorstellung von der Beherrschbarkeit der Natur. Man muss Zeit mitbringen, hier hat man nicht alles selbst in der Hand. Abhängig zu sein von der Natur, das ist eine in Mitteleuropa seltene Erfahrung, beschränkt auf Extremsituationen.
Eine Schule, ein Kind, eine Lehrerin ...
Den alten Leuchtturm bei Ambelos hat die deutsche Wehrmacht zerstört, als sie die Insel im II. Weltkrieg mit 300 Soldaten besetzt hielt. Inzwischen ist das Lichthaus wieder aufgebaut und in Betrieb genommen. Sogar ein kleines Kafenion hat dort Platz gefunden, mit ein paar Stühlen auf dem erhöhten Rundgang. Von hier oben kann man auf beide Meerseiten weit hinunterschauen. Die Wolken steigen auf über dem libyschen Meer, ballen sich zusammen beim Aufsteigen, schweben leicht hin über dieses Stückchen Land und lösen sich wieder auf, ein tolles Schauspiel mit ganz unwirklichen Licht- und Schatteneffekten.
Kastri, der Hauptort, hat seine zentrale Bedeutung verloren, das Gemeindebüro ist nun am Hafen eingerichtet worden. Immerhin gibt es noch eine Schule (ein Kind, eine Lehrerin ...), ein Restaurant „Gogo“ und ein Kafenion, auch wenn nur noch wenige Häuser bewohnt sind. Dafür hat man den wunderbaren Blick aufs Meer. Aber: Von Schönheit wird keiner satt. Die Armut von Gavdos ist ein Faktum.
Das Griechenland der frühen 1970er Jahre ist hier konserviert: karg, archaisch anmutend, abgelegen. Gavdos ist ein Ziel für Individualisten und Naturliebhaber, wo der Tourismus noch im ersten oder gerade erst zweiten Stadium der Entwicklung stecken geblieben ist. Doch es gibt Fortschritt. Photovoltaik sorgt für Strom, die Mauer am Hafen ist verstärkt worden, so dass er bei Sturm sicherer zu nutzen ist, an verschiedenen schönen Stellen sieht man, wie behutsam kleine touristische Unterkunftsangebote aus dem Boden „wachsen“.
Trotz des Abgeschiedenen, Natürlichen, Einfachen, der absoluten Stille auf der Insel finden Reisende noch Grund zur Klage: Nicht einmal hier, wo man den Eindruck hat, aus der Welt gefallen zu sein, in einem Irgendwo und Irgendwann angekommen zu sein, sei man noch sicher vor Handy-Empfang und Internet! Sie gönnen den Einheimischen offensichtlich gar nichts. Selbstverständlich brauchen sie moderne Kommunikationsmöglichkeiten für ihr Leben auf der Insel. Für Touristen gibt es doch ein ganz simples Mittel, wenn sie nicht erreichbar sein und nicht gestört werden wollen: Einfach mal abschalten!
Text und Fotos: Hiltrud Koch