Die Ägäis hat viele außergewöhnliche Dörfer: die Chora von Amorgos, das am Rande des Vulkankraters gelegene Nikia auf Nissiros, das Bergdorf Christos Raches auf Ikaria, Anopoli auf Kreta oder Oia auf Santorin. Doch das karpathiotische Bergdorf Ólymbos sticht heraus. Es gilt Kennern als das vielleicht schönste und bemerkenswerteste Dorf ganz Griechenlands. Warum? Ein Erklärungsversuch.
Die Turmuhr der Dorfkirche zeigt 17 Minuten nach sechs. Morgens in aller Frühe, wenn Papa Jannis, der Dorfpope von Ólymbos, die Glocken läutet und sein Morgengebet singt. Nachmittags, wenn Touristenströme durch die aufgeheizten Gassen des Dorfes trotten und nach Handgemachtem Ausschau halten. Auch abends, wenn auf der kleinen Plateia vor dem Kafenion „Tsambouna“ die einheimischen Männer bei einem Glas Retsina zusammensitzen und uralte byzantinische Gesänge anstimmen, zeigt die Turmuhr noch immer dieselbe Uhrzeit. 17 Minuten nach sechs. Sie ist schon vor Jahren stehen geblieben und damit ein Symbol geworden für das Leben in Ólymbos, einem kleinem Bergdorf im Norden der Dodekanes-Insel Karpathos, in dem – im wahrsten Sinne des Wortes – die Zeit stehen geblieben zu sein scheint; haben sich hier doch bis heute uralte Traditionen erhalten, die überall sonst in Griechenland längst in Vergessenheit geraten sind. Dafür verantwortlich ist vor allem die isolierte geographische Lage des Bergdorfs. Ganz im Norden der unwegsamen Dodekanes-Insel gelegen ist es durch einen mächtigen Gebirgszug vom Inselsüden getrennt. Über Jahrhunderte war Ólymbos so nahezu in Gänze von der Außenwelt abgeschnitten. Das nächstgelegene Inseldorf Spóa war nur über einen ganztätigen und in Teilen abenteuerlichen Fußmarsch über die Berge zu erreichen.
Homer nannte die Insel „die Sturmumtoste“
Um mit dem Schiff nach Rhodos oder Kreta zu gelangen, mussten die Olymbiten einen ganzen Tag einplanen – vorausgesetzt das Meer ließ eine Überfahrt überhaupt zu. Weil das Meer um Karpathos als besonders gefährlich und unberechenbar gilt, gab schon Homer der Insel den Beinamen „die Sturmumtoste“. Im Winter muss deshalb auch heute noch – manchmal wochenlang – die für Karpathos so lebenswichtige Fährverbindung zwischen Rhodos und Kreta ausfallen. Und auch aus dem Süden der Insel, in dem neben der Insel-Hauptstadt Pigádia auch der Flughafen liegt, ist das Dorf nur über eine teilweise noch immer holprige Schotterpiste oder mit dem Schiff über seinen Hafenort Diafáni zu erreichen. Ein Gefühl für die einstige Weltabgeschiedenheit des Dorfes vermittelt auch heute noch ein uralter Maultierpfad: Er schlängelt sich, von Spóa kommend, über 25 Kilometer bis nach Ólymbos und führt durch die schroffen Abhänge des Kymara Berges. Mächtige Wolken umgeben den Bergklotz häufig. Sie setzen den Wanderer einem imposanten Spiel von Wind, Licht und Schatten aus und verleihen ihm so ein Gefühl dafür, was es jahrhundertelang bedeutet haben muss, in dieser unwirtlichen Bergeinsamkeit zu leben. Vorbei an terrassierten Hängen, verlassenen Außendörfern, und immer wieder mit traumhaften Ausblicken, führt ein wunderschöner Kalderimi (gepflasterter Weg) schließlich am Westhang des Profítis Ilías nach Ólymbos. Schon aus der Distanz geraten die Häuserwürfel in den Blick: hineingeklebt in die steilen Hänge des Sattels zwischen Profítis Ilías (719 Meter) im Süden und Korifi (589 Meter) im Norden. Ist das Dorf dann endlich erreicht, führt der uralte Weg direkt auf die kleine Plateia (Hauptplatz) zu. Dabei passiert er das älteste Kaffeehaus des Dorfes, das 160 Jahre alte „Kríti“. Wer eintauchen möchte in das alte Ólymbos, ist bei Archondoúla und Fílippos Fillipákis an der richtigen Adresse. Gerne erzählen die beiden Wirtsleute von den Annehmlichkeiten und den Beschwerlichkeiten ihres Alltags in früheren Zeiten.
Tiefgreifende Veränderungen und alte Traditionen
Obwohl Ólymbos heute wie ein Museumsdorf wirkt, hat sich das Leben im Dorf in den vergangenen Jahrzehnten ganz grundlegend gewandelt. Als tiefgreifendste Änderungen gelten die lange unaufhaltsam scheinende Entvölkerung des Dorfes – achttausend Menschen hiesiger Abstammung leben heute in aller Welt, geblieben sind kaum dreihundert –, der Bau einer Straßenanbindung sowie der Anschluss an das Stromnetz im Sommer 1980. Deutlich verändert hat sich das Dorf auch mit dem Ausbau des Inselflughafens für Chartermaschinen im Jahre 1987 und dem dadurch einsetzenden Tourismus, der den Alltag der Ólymbiten nach und nach ganz deutlich beeinflusst hat. So fahren schon seit Anfang der 1990er Jahre täglich Ausflugsboote vom Insel-Hauptort Pigádia zum nordwestlich gelegenen Hafenort Diafáni. Von dort führt eine damals neu gebaute Asphaltstraße in das nur sechs Kilometer entfernt gelegene Bergdorf. Ein zunächst behutsamer Tagestourismus hielt während der Sommersaison in Ólymbos Einzug. Dieser entwickelte sich für die Dorfbewohner schnell zu einem wichtigen Erwerbszweig. Stark an Bedeutung verloren hat hingegen die Landwirtschaft. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, als die Òlymbiten sich weitgehend selbst mit Lebensmitteln versorgten, wurden die Felder weit um das Dorf intensiv bewirtschaftet. Die eindrucksvoll terrassierten Hänge bezeugen noch heute diese ehemals intensive landwirtschaftliche Nutzung. Über die Jahrhunderte hatte Ólymbos sogar mehrere Außensiedlungen wie Trístomo, Forókli, Péi, Argóni, Asia oder Ahamándia aufgebaut. Mit seinen über 300 Gebäuden, den so genannten Stavliá, galt Awlóna als die größte und wichtigste Außensiedlung auf Karpathos. Einst die Kornkammer des gesamten Inselnordens sind heute auch hier nur mehr wenige Felder bewirtschaftet. Zu groß war der Exodus an Insulanern in den vergangenen Jahrzehnten. Obwohl also auch in Ólymbos drastische Veränderungen des Alltagslebens um sich greifen, gibt es einige Traditionen, die sich über Jahrhunderte erhalten haben. Dazu zählen vor allem die eindrucksvollen Trachten der ólymbitischen Frauen. Diese sind das sichtbarste Zeichen der außergewöhnlichen Traditionsverbundenheit der Dörfler und tragen ganz wesentlich auch zur touristischen Faszination des Dorfes bei. Sie gelten nicht nur als die farbenprächtigsten des gesamten Dodekanes, sondern werden auch heute noch ganz selbstverständlich im Alltag getragen. Eine Besonderheit, die sich in keinem Als sei die Zeit stehen geblieben ... die Blaskappellen sich gegenseitig zu überbieten schienen, signalisierte die Zweijährige in einem immerhin schon Vierwortsatz: „Das zu laut eben!“ Dass es sich um Russen handelte, wusste ich, nachdem ich vorsichtshalber einen neben mir stehenden Griechen nach ihrer Herkunft befragt hatte. Er antwortete darauf, dass man das doch merke, weil die im Marschieren mehr auf Zack seien als die eigenen Landsleute, bei denen das eher wie Volkstanz aussehe. Zum Glück war dieser Teil der Veranstaltung eh vorüber, sodass wir nun zur Besichtigung eines griechischen und eines russischen vor Anker liegenden Kriegschiffes übergehen konnten, Gedanken an Pazifismus hinter uns lassend, schließlich wollte das Kind ja „da auch hoch“… Leider war nach einem leckeren Mahl mit Meeresblick (Moussaka, Tirokafteri, Kalamarakia usw.) Schlafenszeit für die Kleine angesagt, so dass wir nach Hause ins 37 Kilometer entfernte Longá aufbrechen mussten. Während das Kind bereits auf der Autofahrt einschlief und wohl von dem viel größeren russischen Schiff träumte, reifte in uns allen der Gedanke, im nächsten Jahr wiederzukommen, um auch die Veranstaltungen am Nachmittag mit Tanz und anderen Darbietungen zu besuchen. Vielleicht sehen wir dann auch eines der versenkten Schiffe von 1827, die man angeblich bei schönem Wetter noch auf dem Grund liegen sehen kann. Und hoffentlich kostet die Eisenbahn dann noch immer nur 50 Cent! anderen Dorf in der Ägäis heute mehr
finden lässt.
Keine Bäckerei: das Brot wird selbst gebacken
Ólymbos ist zudem bis auf den heutigen Tag ein Dorf ohne Bäckerei. Im gesamten Norden von Karpathos gibt es nicht eine einzige davon. Noch immer backen die karpathiotischen Frauen ihr Brot in uralten, im Freien stehenden Öfen selbst. Jede Frau hat ihr eigenes Rezept und würzt ihre kreisrunden Brotlaibe je nach Jahreszeit mal mit Anis, mal mit Mohn oder Sesam. Gut 20 alte Steinöfen sind über das Dorf verteilt. Sie werden von mehreren Familien gemeinsam genutzt.
Gold-Kolliers: Reichtum, der zur Schau gestellt wird
Die besondere Traditionsverbundenheit der Ólymbiten zeigt sich auch darin, wie sie das Osterfest begehen. Die Karwoche ist zunächst geprägt von den Vorbereitungen für das große Fest: Häuser werden gekalkt, Ziegen geschlachtet und besondere Brote gebacken. Am Gründonnerstag zieht abends nach der Messe dann eine Prozession durchs Dorf und Papa Jannis segnet die Häuser, vor denen die Bewohner eine Kerze aufgestellt haben. Am Karfreitag wird morgens
vor der Kirche der Epitaph mit Blumen geschmückt. Dann hängt man Grabkränze und Bilder von den zuletzt in Ólymbos Verstorbenen daran. Einen ersten Höhepunkt des Osterfestes bildet dann die Auferstehungsfeier in der Nacht von Karsamstag auf Ostersonntag. Nach der Messe lassen Kinder und junge Männer auf dem Kirchplatz Knallkörper krachen. Schließlich trifft sich die Familie, um gemeinsam die Majirítsa, die traditionelle Ostersuppe, zu verspeisen. So weit verläuft das Osterfest in Ólymbos wie überall sonst in Griechenland. Im Unterschied jedoch zur gesamten orthodoxen
Glaubenswelt feiert man in Ólymbos auch den Osterdienstag, „Lámbri Tríti“ genannt. Bis zum frühen Nachmittag werden an diesem dritten Osterfeiertag die fünf wertvollsten Ikonen der Dorfkirche durch die Gassen und Felder zum Friedhof getragen. Wieder zurück im Dorf erkaufen sich einige Männer mit einer Geldspende das Recht, die Ikonen zum Kirchplatz hinauf schleppen zu dürfen, wo sie später symbolisch für einige Tausend Euro versteigert werden. Dem glücklichen Ersteigerer winkt für ein Jahr der besondere Segen der Ikone, zudem ein Essen im Seitentrakt der Kirche, dessen Teilnahme als besondere Ehre gilt. In Festtagstracht warten währenddessen die Frauen vor der Kirche. Die erstgeborenen Mädchen und jungen Frauen tragen die so genannten Kollinés, Gold-Kolliers, die den Reichtum der Trägerin zur Schau stellen. Früher einmal suchten die Eltern an diesem Tag für ihre Söhne die passende Braut aus, weshalb der Tag auch Brauthandel oder Heiratsmarkt genannt wurde. Bei Musik und Tanz klingt das Osterfest dann abends auf der Plateia aus. Dass Ólymbos wie kaum ein anderes Dorf in Griechenland an seinen Traditionen festhält, ließe sich an weiteren Besonderheiten belegen: an den früher typischen Tätowierungen der Frauen am linken Unterarm, dem speziellen Erbrecht des Dorfes, der für westliche Ohren äußerst gewöhnungsbedürftigen Dudelsack- Musik, den prächtig ausgestatteten inseltypischen Wohnhäusern oder an den eintönigen Stampftänzen. Ólymbos ist so nicht nur eines der bemerkenswertesten Dörfer der Ägäis. Es ist sicher auch eines der schönsten.
Von Christian Peters