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Die Geburt des Hydra-Mythos und ein Kurbad im Dornröschenschlaf

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Die Geburt des Hydra-Mythos und ein Kurbad im Dornröschenschlaf

Nach der steinigen Insel Hydra, die sich ab den 1960 Jahren zu einem bunten Künstlertreff mauserte, geht die Fahrt weiter nach Methana, ehemals das Marienbad des Balkans.


Warum ist das nahezu strandlose und perfekt abgeholzte Hydra seit 50 Jahren eine feste Größe bei den Happy Few-Jet-Set-Vergnügungsjunkies? Gut, zum einen kam 1960 der tiefstimmige Barde Leonard Cohen aus Montreal zufällig auf der Suche nach irgendetwas Neuem auf die Insel, kaufte sich für 1500 USD eine mehrstöckige Ruine – typischerweise für ihn das einzige Haus auf Hydra ohne Meerblick – schrieb dort viel, dichtete, tanzte, trank, fand rasch Anschluss an andere Exil-Maler und Poeten, lernte eine kluge und hübsche Marianne kennen und verbrachte mit ihr die nächsten zehn Jahre, barfuß, meistens. Wenn ihn zur Abwechslung wieder mal die Melancholie umarmte, saß er am Fenster und betrachtete die Vögel, die auf den eben neu gelegten Telefonkabeln quiekten. „So long, Marianne“ und „Bird on the wire“ wurden zu Hydra-Hymnen, die einen kleinen Mythos schufen und viele Pilger und Fans auf den 55 Quadratkilometer Felsen lockten; etwa die Beatles, die Stones und Pink Floyd. Nahezu zeitgleich kam der Kinofilm „Der Junge auf dem Delphin“ in die Kinos, in dem Sophia Loren, für die man hier ein Bronzedenkmal erbaute, eine Schwammtaucherin spielte und sich irgendwann mal über Wasser verliebte.
Da das attraktive Blau und Weiß von Hydra quasi die zweite Hauptrolle spielten, kam es Ende der 1960er nicht selten vor, dass hochkarätige Diven wie Jackie Kennedy, die Bardot, Callas, Liz Taylor und Hepburn mit Männern und Entouragen gleichzeitig vor Ort waren. Es folgte die Elite der Modemacher, allerlei VIP’s, Künstler und Kunstsammler, Adabeis und deren PR-Agenten. „ I have tried in my way to be free ...“ singt Monika. Cohen floh ab 1970 den Promiauflauf und verschanzte sich fürs erste im Chelsea-Hotel. Die Hydrioten entschieden sich damals gegen schnelles Geld für Denkmalschutz und Ökologie. Autos, Neubauten, Plastikstühle, Hotelaufzüge und Satellitenschüsseln sind nun mal verboten. Schon vor 150 Jahren attestierte Heinrich Schliemann den Menschen hier „große Ehrlichkeit und Uneigennützigkeit.“ Als Virgin-Boss Richard Branson unlängst einen Plan einreichte, nahe Hydrastadt im winzigen Fischerdorf Kamini ein Bungalow-Edel-Ghetto im karibischen Stil zu bauen, winkte die Mehrheit der knapp 3000 Kommunarden nur müde ab.

Daytripper aus kleinen Kreuzfahrtschiffen

Jeden Morgen spielt Hydra seine einzigartige Melodie: Ein Hahn, dann zwei, dann alle. Das animiert die Katzen zu einem Kreissägengeplärre. Als Percussion klacken die Hufe der Mulis auf den Gassensteinen wie High-Heels-Absätze einer Modelarmee. Von weiter weg blubbern die Dieselmotoren der Fischerboote. Eine Fähre, eine Sirene. Neun Mal schlägt der Glockenturm. Um diese Zeit finden sich die üblichen Kaffeehaushocker ein und begaffen gleichgültig die vielen Daytripper aus den kleinen Kreuzfahrtschiffen, die orientierungslos ein paar Stunden an all den teuren Boutiquen, Galerien und Shops vorbeilaufen und in den ein bis zwei Esel breiten Gassen die knallblau bemalten Amphoren und taubenblauen Flügelfenster fotografieren. Monika hat sich diesbezüglich auf die kupfernen Türklopfer spezialisiert, die es nirgendwo sonst auf der Welt schöner gibt. Es gibt in Hydrastadt zudem ein paar Museen und Galerien, man kann sich Ikonen in der nach Weihrauch duftenden Maria Himmelfahrt-Kirche betrachten, man kann sich auf den Betonplateaus der schroffen Felsklippen sonnen, man kann über Mohnfelder, vorbei an Ginster und Erdbeerbäumen zum etwa 500 Meter hohen Erosberg wandern oder mit einem kleinen Wassertaxi die Insel umkreisen.

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Steinhäuser des Flottegelds aus dem 18. Jahrhundert

„Ihr hättet damals hier sein sollen,“ redet später ein glatzköpiger Asylartist auf dem Dachgarten der schicken Bratsera-Cocktail-Bar auf uns ein. „Lenny kam immer zu mir, weil ich hatte den einzigen batteriebetriebenen Plattenspieler.“ Dann nimmt er uns am Arm und deutet auf einen zauberhaften Platz mit einer schönen Taverne. „Das ist das Douskas, unsere frühere Stammkneipe, ich spiele heute Abend da. Soll ich euch denn vorher Lennys Haus zeigen?“ Während er mit Monika eine unendliche Treppe angeht, betrachte ich mir in Ruhe die dreistöckigen 18. Jahrhundert-Steinhäuser des alten Flottengelds, Errungenschaften der Levante und seiner trickreiche Nadelstreifen-Piraten. Wie beschrieb mir heute Morgen ein deutscher Asylpoet die Hassliebe? „Hydra, nirgendwo sonst kann ich leben, dich leider eingeschlossen.“ Je weiter man sich von der Hafenparalia bergwärts entfernt, desto mondäner und schicker werden die Tavernen. Beim großen Abendauftritt sind alle europäischen Sprachen zu hören, einschließlich Schweizerdeutsch. Es duftet nach greco-französischer Küche, nach Rosmarin, Octopus, frisch gegrillten Rotbarben, Safran, Koriander, Knoblauch, Zitronen. Die Klientel rauscht aus ihren Speed-Yachten oder strömt aus den paar Luxushotels und laut parlierend gilt der Weg dem jeweiligen Stammlokal, man trägt neueste Mode, feinstes Tuch und brilliert mit unappetitlicher Arroganz. Vier Tage umschlossen vom ewig anrollenden Meer – genug – so long, Hydra.

Auf einer Zeitreise im Kurbad Methana

Als die Fähre mit Kurs auf Piräus auf der birnenförmigen Halbinsel Methana anlegt, steigen wir spontan aus, folgen dem Schwefelgeruch und kommen an einem Stinksee vor einer verwaisten Kuranlage aus der letzten Jahrhundertwende zu stehen. In jener Zeit muss dieses Methana das Marienbad des Balkans gewesen sein, ein eleganter Gründerzeit-Kurkomplex mit prächtigen Hotels, Palmengärten, Thermen, Pavillons, neoklassizistischen Kinos und Theatern, einem Casino und vermutlich einer Esel-Galopprennbahn. Europas Könige, ägyptische Halb-Pharaonen, hellenische Finanzminister, inter-nationales Business und Pleasure erholten sich von den Strapazen ihrer Führungsqualitäten. Heute sind nur noch Skelette und Ruinen jener Hochzeit zu bewundern, doch es bereitet morbiden Spaß, durch die Kulissen eines abgedrehten Films zu streifen. Die vulkanische Halbinsel dämmert im Dornröschenschlaf, vergessen, überrollt, vertröstet und doch geküsst. Methana schenkt uns allen eine Zeitreise in das Griechenland der 1960er Jahre, in das wahre und ersehnte Arkadien, welches vom plötzlichen Reichtum der letzten Dekaden verdrängt wurde. In mir macht sich tiefes Glück breit, als wir da unbeleidigt von wummerndem Loungewahn, Fünfsterngehampel und Amexautomaten am Kai des von jedem Tempo befreiten Hauptstädtchens entlanglaufen.

Was für eine faszinierende Welt!

Es herrscht das große Nichts, eine ziellose Freude. Flaggen flattern im Wind, ein paar Männer dösen im Schatten, ein Angler angelt, Schulkinder hüpfen auf Kreidezeichnungen, im halluzinogen eingerichteten Minimarkt fehlt der Betreiber, nur sein Wellensittich raschelt. In der ebenso unbesetzten Rezeption des einzigen Hafenhotels könnte man sofort eine schwarzweiße Sorbas-Sequenz drehen. Ich habe Griechenland seit Ewigkeiten nicht mehr so pur, romantisch und altmodisch erlebt. Der heiße Schwefel, der hier an ein paar Stellen aus dem Erdinneren faucht, korrespondiert mit dem vulkanischen Kern und seinen 24 Kratern. Die letzte Eruption soll sich um 250 v. Chr ereignet haben und der Bums verhalf dem Saronischen Golf zu seinem heutigen Aussehen. Wir decken uns mit Wein, Brot und Käse ein, leihen uns einen Jeep, entdecken das antike Sitzbad des Pausanias, staunen über die paradiesische Schlichtheit des winzigen Fischerdorfs Vathia und folgen dann einer großartigen Serpentinenstraße durch eine wild begrünte Kratermondlandschaft hin zu einem Plateau in etwa 750 Meter Höhe. Und dort liegt eine Gänseblümchenwiese wie gemalt, übersäht von riesigen nussbraunen Lavablöcken und bewachsen mit Kiefern, Öl- und Mandelbäumen sowie alten Eichen. Von irgendwoher bimmelt eine Ziegenherde, Smaragdeidechsen huschen zögerlich ihren Weg, Vögel zwitschern, keine Menschenseele regt sich weit und breit, Blätter rauschen, ringsum leuchtet das Meer. „Sag mal, wie hieß diese Höhle? Du weißt doch, tu nicht so, die damals mit diesen Liebestropfen?“, fragt eine weiche Stimme. Was für eine Reise, wie viele Metamorphosen in einem so winzigen Kosmos doch enthalten sind, was für ein schöner Sonntag, was für eine faszinierende Welt!

Wolf Reiser

Unsere Fotos (© GZ / jh) zeigen einen Panorama-Blick auf das Städtchen Hydra mit seinen Häusern, erbaut mit „Flottengeld“. Am Hafen: Mehr Esel als Blechkisten.

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