Etwa 15 Kilometer nördlich von Athen liegt der heutige Parnitha-Nationalpark. Dort hatte der aus Dänemark stammende König Georg im Jahre 1871 ein Grundstück erworben, auf dem später nach russischem Vorbild der Sommersitz der Königsfamilie errichtet wurde.
Der Nationalpark Parnitha (Εθνικός Δρυμός Πάρνηθας) ist ein beliebtes Naherholungszentrum, das sich am Berg Parnes (ngr. Parnitha) im Nordwesten Attikas erstreckt. Er ist in verhältnismäßig kurzer Zeit zu erreichen. Hier können die gestressten Athener zumindest für einige Stunden der Hektik des Alltags entfliehen, um in der Ruhe der Natur ein wenig Entspannung zu finden. Teil des Nationalparks ist an den südlichen Ausläufern des Parnes das Gebiet von Tatoi, Freunden der griechischen Antike als Dekeleia bekannt. Auch heute noch findet der alte Begriff bisweilen als offizielle Bezeichnung Verwendung (Δεκέλεια).
Der Name Tatoi ist im modernen Griechenland untrennbar mit dem dort befindlichen Landsitz des ehemaligen griechischen Königshauses verbunden. Der Gründer der Dynastie, König Georg I., hatte sich im 19. Jahrhundert für diesen Platz entschieden, der noch dem letzten griechischen König, Konstantin II. bis 1967 als Wohnsitz diente. Für die Mitglieder der königlichen Familie war Tatoi von Anfang an stets etwas Besonderes. In ihren Erinnerungen heben sie den Landsitz immer wieder als Ort einer unbeschwert und glücklich verbrachten Zeit hervor. Ehemals streng abgesperrt und entsprechend bewacht ist das ausgedehnte, reich bewaldete Areal, das etwa 15 Kilometer nördlich von Athen liegt, heute für den Spaziergänger frei zugänglich. Lediglich die zur Anlage gehörenden Gebäude sind entweder verschlossen, umzäunt oder im Verfall begriffen. Auf einer Anhöhe nahebei findet sich der Friedhof der königlichen Familie.
Ein dickes Vorhängeschloss sichert die Flügel des Tores, das die Zufahrt zur dahinter gelegenen Allee versperrt; ein Wächterhäuschen daneben in den Farben weiß und blau steht verlassen da. Das ist auch schon alles, was von der Straße aus auf die Bedeutung des Ortes hinweist. Dabei erstreckt sich jenseits des Tores doch immerhin der einstige königliche Landsitz von Tatoi. Wirklich ernstgemeint ist die Absperrung des Weges aber ohnehin nicht, schaut man sich nämlich näher um, so stößt man jenseits des Wächterhauses auf einen kleinen Weg, der in das vermeintlich verschlossene Areal hineinführt. Und so kann man dann auch der Allee folgen, bis man an ein weiteres Tor stößt, das nun allerdings auch kein Hindernis mehr darstellt. Bei ihm handelt es sich um das innere Tor des eigentlichen Palastareals, und auf dem Weg, der von hier nach links hinaufführt, erreicht man schon bald das Herzstück der Anlage, den königlichen Palast. Dieser freilich vermittelt viel eher den Eindruck eines aufwändigen Landhauses, und dies entspricht auch durchaus der Intention und dem Empfinden seines Erbauers, König Georg I.
Hort der Entspannung und Erholung
Der aus Dänemark stammende Georg war 1863 nach Griechenland gekommen, um die Nachfolge König Ottos anzutreten, der das Land kurz zuvor hatte verlassen müssen. Als Residenz übernahm er von seinem Vorgänger das große Schloss am Athener Syntagma-Platz, jenes Gebäude also, das heute das griechische Parlament beherbergt. Um aber die Möglichkeit zu haben, mit seiner Familie dem offiziellen Ambiente dort zumindest zeitweise zu entfliehen, fasste der König den Plan zur Einrichtung eines Landsitzes außerhalb der Hauptstadt. Dem Architekten Ernst Ziller gelang es, ihn davon zu überzeugen, dass Tatoi der geeignete Platz für einen solchen wäre, und so kaufte Georg das Gelände im Jahre 1871. Ziller, der in jenen Jahren damit begann, dem Athener Stadtbild durch seine Bauten einen ganz maßgeblichen Stempel aufzudrücken, glaubte nun die Chance gekommen, in Tatoi ein großes, prächtiges Schloss für den König errichten zu können. Seine diesbezüglichen Planungen geben Zeichnungen wieder, die heute im Historischen Nationalmuseum (Εθνικό Ιστορικό Μουσείο) in Athen aufbewahrt werden. Mit seinen Ideen fand Ziller beim Monarchen, dessen eigene Vorstellungen in eine erheblich bescheidenere Richtung tendierten, allerdings kein Gehör. Die neue Heimstatt sollte in ihrer Gestalt nämlich nicht etwa pompöser Repräsentation verpflichtet sein, sondern vielmehr einem eher privaten Charakter des Landsitzes Rechnung tragen. Und so scheiterte Ziller auch mit einem zweiten Entwurf, der im Vergleich zum ersten zwar deutlich kleiner ausgefallen, dem König aber noch immer zu aufwändig war. Georg lag daran, in Tatoi einen Hort der Entspannung und Erholung für sich und seine Familie zu schaffen. So scheint zunächst denn auch die landschaftliche Gestalt der Anlage mehr Aufmerksamkeit für sich beansprucht zu haben als das Haus, in dem man wohnen sollte. Das besondere Augenmerk des Königs jedenfalls galt offensichtlich eher dem ausgedehnten Wald, der aus dem ganzen Mittelmeerraum herbeigebrachten Pflanzenwelt und nicht zuletzt dem Rotwild, das hier angesiedelt wurde. Dagegen war die erste Unterkunft der Familie wohl kaum mehr als ein einfaches Bauernhaus. Im Jahre 1875 konnte dann aber doch eine kleine, zweigeschossige Villa bezogen werden, die zwar wiederum von Ziller entworfen worden war, mit den ursprünglichen, überaus großzügigen Planungen des Architekten freilich nichts mehr gemein hatte. In der Folge entstand in unmittelbarer Nähe eine Reihe weiterer Gebäude, die vor allem für das reibungslose Funktionieren des Landsitzes nötig waren, zum Teil aber auch darüber hinausgehenden Aufgaben dienten, wie zum Beispiel die Schule und Unterkunft des königlichen Hauslehrers Otto Lüders.
Ein Landsitz nach russischem Vorbild
Es mag nicht zuletzt mit dem raschen Anwachsen der Familie zusammenhängen – Königin Olga brachte immerhin acht Kinder zur Welt –, dass der König schon bald den Plan fasste, einen weiteren, nun doch etwas größeren Bau errichten zu lassen. Von dessen Aussehen hatte Georg auch bereits sehr klare Vorstellungen. Als Vorbild sollte nämlich ein kleiner Palast im russischen Peterhof fungieren, das so genannte Landhaus Alexander II., eines Onkels von Olga. Es war Teil jener ausgedehnten Zarenresidenz bei St. Petersburg, die gerne als das „russische Versailles“ bezeichnet wird. Beim griechischen Königspaar jedenfalls, das in St. Petersburg geheiratet hatte, muss dieser Bau einen so bleibenden Eindruck hinterlassen haben, dass es beschloss, den Palast in Tatoi weitgehend nach dessen Vorlage zu gestalten. Mit den Arbeiten wurde der Architekt Savvas Boukis beauftragt, der zunächst nach Peterhof reiste, um das Original kennenzulernen. Zurück in Athen konnte er mit seinen Arbeiten beginnen, wobei er im Großen und Ganzen tatsächlich dem „Original“ folgte, ohne aber eine exakte Wiederholung zu schaffen. So ist abgesehen von einigen Planänderungen einer der markantesten Unterschiede das Fehlen eines Außenputzes bei dem Bau in Tatoi. Mit seinem sichtbaren Steinmauerwerk fügt sich der Palast harmonisch in die Umgebung ein. Ist er nach vorne zum vorbeiführenden Weg hin orientiert, gibt sich seine Rückseite als die eigentliche Hauptseite zu erkennen. Dort erstreckte sich vor einer großen Veranda im Erdgeschoss eine ausgedehnte Terrasse, von der eine Doppeltreppe in den Garten hinab führte. Ein ursprünglicher Teich wurde später durch den heute verwaist daliegenden Swimmingpool ersetzt. Weiter hinab gelangte man an einen Tennisplatz. Nachdem der Palast 1889 bezugsfertig geworden war, konnte die königliche Familie noch im selben Jahr in die neuen Räumlichkeiten hinüberwechseln. Die durch den Umzug der Familie freigewordene Villa überließ Georg seinem Sohn, dem Kronprinzen Konstantin, der unmittelbar zuvor eine Schwester Wilhelm II., Prinzessin Sophie von Preußen, geheiratet hatte.
Jens Rohmann
Foto: © Eurokinissi