Der deutsche Staatsminister Michael Roth hielt am Donnerstag ein Grußwort zur Vorstellung des Zeitzeugenprojektes "Erinnerung an die Okkupation in Griechenland" an der Universität Athen. Die Griechenland Zeitung veröffentlicht dieses Dokument an dieser Stelle. Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren,
"Die Erinnerung ist wie das Wasser. Sie ist lebensnotwendig und sie sucht sich ihre eigenen Wege in neue Räume und zu anderen Menschen. Sie ist immer konkret. Sie hat Gesichter vor Augen und Orte, Gerüche und Geräusche. Sie hat kein Verfallsdatum und sie ist nicht per Beschluss […] für beendet zu erklären."
Eindrücklicher als der Auschwitz-Überlebende Noah Flug kann man es kaum formulieren. Er verstarb 2011 im Alter von 86 Jahren. Seine Worte lesen sich wie ein Manifest für das Zeitzeugenprojekt zur Aufarbeitung der deutschen Besatzung in Griechenland, das wir heute hier in Athen vorstellen.
Dieses Projekt gibt den Opfern der Nazi-Schreckensherrschaft einen Namen, ein Gesicht, eine Stimme. Aus abstrakten Opferzahlen werden konkrete Einzelschicksale mit ihren Geschichten. Endlich!
Sehr geehrte Frau Asser-Pardo und Frau Papatheodorou, es ist wunderbar, Sie beide als Zeitzeuginnen der Gräueltaten während der deutschen Besatzungszeit begrüßen zu dürfen. Ich danke Ihnen und allen anderen mutigen Menschen, dass Sie sich bereit erklärt haben, an diesem Projekt mitzuarbeiten.
Ich kann nur erahnen, wie schmerzhaft die Erinnerung an furchtbare Ereignisse Ihres Lebens sein muss. Sie leisten damit einen unschätzbaren Beitrag für die Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel in der deutsch-griechischen Geschichte.
Die Erinnerungen von Zeitzeugen sind ein kostbarer, aber auch vergänglicher Schatz. Jeder, der einmal einem Holocaust-Überlebenden zugehört hat – fassungslos, erschrocken, berührt –, wird mir sicher zustimmen: Das vermag kein Buch, kein Film, kein Theaterstück zu erreichen. Wir können dankbar sein, dass die Zeitzeugen uns, solange sie es noch können, ihre ganz persönlichen Geschichten erzählen und uns an die grausame Wirklichkeit des Holocaust erinnern.
Vergessen wir niemals: Deutsche und ihre willfährigen Helfershelfer haben zur Zeit der deutschen Besatzung so viel Leid über Griechenland und seine Bevölkerung gebracht. Wir können diese Verbrechen nicht ungeschehen machen. Aber wir können dabei mithelfen, dass sich das Unrecht, das geschehen ist, niemals wiederholt. Wir wollen die Erinnerung an Zerstörungswahn, hemmungsloser Gewalt, blanken Hass und Mord wachhalten – nicht als Selbstzweck, sondern vor allem, um daraus die Lehren für eine bessere Zukunft zu ziehen. Zukunft braucht Erinnerung – beides gehört für mich untrennbar zusammen.
Es ist eine längst überfällige Aufgabe, die Erfahrungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen systematisch zu erfassen und aufzuarbeiten, damit diese einem breiten Publikum bekannt werden. Ich bin überzeugt: Dieses Zeitzeugenprojekt kann einen wichtigen Anstoß für eine gemeinsame deutsch-griechische Erinnerungskultur geben, die nichts ausspart und den Opfern ihre Würde zurückgibt.
Gerade wir Deutschen tragen dabei eine besondere Verantwortung. Ich bekenne mich ausdrücklich dazu. Wir Deutsche wissen: gemeinsames Erinnern und Gedenken ist die Voraussetzung für Versöhnung. Genau darum ging es Bundespräsident Joachim Gauck, als er in seiner Rede im Märtyrerdorf Lyngiadis im März 2014 um Verzeihung für die furchtbaren Gräueltaten der Wehrmacht bat:
"Wenn wir Erinnerungswege beschreiten, dann nicht, weil wir auf die Vergangenheit fixiert wären. […] Aber wir schauen auf die Vergangenheit, um ihre Botschaft für die Gegenwart und Zukunft zu vernehmen: Vergesst niemals, dass Ihr wählen könnt zwischen Böse und Gut. […] Lasst allen Menschen ihre Würde und ihre Rechte. Und schließlich: Achtet und sucht die Wahrheit. [Die Wahrheit] ist eine Schwester der Versöhnung."
Ja, die Wege der Versöhnung sind lang und beschwerlich. Sie kosten Überwindung und Kraft. Aus der Versöhnung erwächst auch Zuversicht und Hoffnung. Wir belassen es aber nicht allein bei Appellen. Inzwischen gibt es einen „Zukunftsfonds“, der mit jährlich einer Million Euro zahlreiche Versöhnungs- und Bildungsprojekte zwischen Griechenland und Deutschland fördert.
Wir unterstützen konkrete Erinnerungsprojekte in Opferdörfern und den jüdischen Gemeinden – wie zum Beispiel in Kommeno und in Thessaloniki. Ebenso finanziert mein Ministerium Forschungs- und Studienprojekte für eine gemeinsame Erinnerungskultur.
Im Dezember 2016 eröffneten die beiden Außenminister in Thessaloniki die Ausstellung "Gespaltene Erinnerungen 1940-1950. Zwischen Geschichte und Erfahrung". Auch sie wird aus dem Deutsch-griechischem Zukunftsfonds finanziert. Und es freut mich, lieber Herr Kollege Gavroglou, dass Sie heute an dieser Veranstaltung teilnehmen.
Die exzellente Zusammenarbeit zwischen der Freien Universität Berlin und der Universität Athen ist vorbildlich. So kann unsere Zusammenarbeit gelingen. Danken möchte ich den weiteren Unterstützern, der Niarchos-Stiftung, der Freien Universität Berlin und der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft". Ohne Ihren wichtigen finanziellen Beitrag wäre das Vorhaben nicht möglich gewesen.
Gemeinsames Erinnern und Gedenken ist nach wie vor dringend notwendig. Das belegen leider auch die jüngsten Ereignisse in Deutschland und in Griechenland. Vertreter rechtsextremer Parteien in Deutschland bezeichnen Holocaust-Gedenkstätten als „Schande“. Neonazis versuchten in griechische Schulen einzudringen, in denen Flüchtlinge unterrichtet werden sollen.
In unseren beiden Ländern lehnen die allermeisten Menschen dies ab. Aber aus der schweigenden Mehrheit muss eine laute werden, die aufsteht und ein klares Bekenntnis ablegt wider den Hass und das Vergessen. Das sind wir den Opfern schuldig. Erinnerung macht uns stark und empfindsam in einer Zeit, die aufrechte Demokraten, Freunde der Freiheit und mutige Verteidiger des Menschenrechts dringend braucht.
Unser Archivfoto (© Eurokinissi) entstand am 13. Februar 2015 anlässlich eines damaligen Besuches von Staatssekretär Michael Roth in Athen.