Die Radikale Linksallianz SYRIZA wird aus den Parlamentswahlen in Griechenland am kommenden Sonntag allen Umfragen zufolge als stärkste Kraft hervorgehen. Welche Gründe trieben in den vergangenen zwei Jahren massenhaft Wähler anderer Fraktionen in die Arme der ehemaligen Randpartei?
Von Robert Stadler
Jung und Alt haben sich am zentralen Athener Omonia-Platz zur Abschlussdemo für die Parlamentswahlen am kommenden Sonntag versammelt. Aus den Lautsprechern tönt Weltmusik. Die Stimmung ist gut, wenn auch nicht frenetisch. Alle Kundgebungsteilnehmer feiern ihren Alexis Tsipras, den stets krawattenlosen Vorsitzenden des Radikalen Linksbündnisses SYRIZA, der vor einem riesigen roten Transparent mit dem Parteisymbol zur Menge spricht: „Gebt uns die Macht, Griechenland in die Lüfte zu erheben“, fordert er seine Anhänger auf. In sechs Monaten wird der linke Politiker 40 Jahre alt, am Montag vielleicht schon Regierungschef. Alle Umfragen sehen SYRIZA als den sicheren Wahlsieger an.
„Jetzt hat sich die halbe PASOK zu SYRIZA geflüchtet“, meint Stelios fast verächtlich. Kurz hatte der seit zwei Jahren arbeitslose Graphiker überlegt, auch für Alexis zu stimmen. Die unübersehbare Präsenz von Ex-Politikern und Ex-Gewerkschaftern der ehemaligen Großpartei, der sozialistischen PASOK, beim Linksbündnis sorgte bei ihm für einen Gesinnungswandel. Ganz Unrecht hat Stelios nicht. Woher kommen die Massen, die plötzlich dem Charme einer dem Namen nach Radikalen Linkspartei erliegen? Den größten Anteil unter den SYRIZA-Wählern machten 2012 Beamte aus. In diesem Bereich dominierten über Jahrzehnte die PASOK und die konservative Nea Dimokratia (ND), die zügellos ihre Klientel mit Posten versorgten. Die „Verratenen“ geben sich nun offensichtlich der Halluzination hin, dass die Tsipras-Partei Kürzungen bei Renten und Gehältern über kurz oder lang wieder rückgängig machen wird. Andere erhoffen sich eine Wiedereinstellung. Denn im Zuge der Austeritätspolitik wurden erstmals auch Staatsdiener entlassen.
SYRIZA kam 2009 auf gerade mal 4,6 Prozent der Stimmen (315.000), um sich beim Urnengang im Mai 2012 auf 16,78 Prozent und etwas mehr als eine Million Wähler zu katapultieren; im Juni darauf waren es dann 26,89 Prozent und 1,655 Millionen, und jetzt dürfte die ehemalige Splitterpartei deutlich über 30 Prozent liegen und um die zwei Millionen Wähler hinter sich versammeln.
„Ich wähle SYRIZA, weil ich von der PASOK enttäuscht bin“, meint der Rentner Thanassis. „Sie hat meine Pläne fürs Leben und diejenige für meine Kinder kaputt gemacht“. Er hat Jahrzehnte für einen deutschen Konzern gearbeitet und eine passable Rente von etwa 1.500 Euro erhalten. Davon wurden 60 Prozent gekappt. Ein triftiger Grund, seiner ehemaligen politischen Heimat den Rücken zu kehren.
Viele sehnen sich schließlich, wie Untersuchungen zeigen, einen Wechsel des politischen Systems herbei. Sie sind der Vorherrschaft der alten Parteien, die das Land in die Krise führten, überdrüssig und verteufeln die Art, wie sie sie gemanagt haben. Die ND kam mit einem blauen Auge davon, die schlimmste Abstrafung musste die PASOK hinnehmen. Noch 2009 konnte sie drei Millionen Wähler um sich scharen, und jetzt krebst sie dort herum, wo sich SYRIZA vor fünf Jahren befand: bei vier bis fünf Prozent.
Es sind aber nicht nur die finanziellen Nöte der Menschen, die seit 2010 im Lande praktizierte Sparpolitik, die SYRIZA Wähler in die Arme treiben. Die Erschütterungen in der griechischen Politlandschaft resultieren aus einem explosiven Cocktail: Verarmung, Enttäuschung, Missmut mit dem politischen System seit 1974. Bei einigen schwingt aber auch ein bisschen verzweifelte Hoffnung mit. Denn: Viele haben wenig oder gar nichts zu verlieren. Hunderttausende Arbeitslose gehören hier dazu, zigtausende arbeitslose Jugendliche ohne Perspektive: „Mir ist es lieber, etwas ‚auszuprobieren‘, was ich nicht kenne. Wir dürfen einfach nicht mehr länger jene weitermachen lassen, die das Land im Auftrag von anderen zerstören“, schimpft Nikos, ein 22-jähriger Physiotherapie-Student. „Viel schlimmer kann es nicht werden“, ergänzt er. Und der 26-jährige Manos wettert: „Ich werde SYRIZA wählen, weil ich es nicht ertrage, dass der Slogan ‚Zuerst die Menschen und dann die Banken‘ als extremistisch angesehen wird und auch, damit der Ausverkauf des Landes aufhört“.
SYRIZA und ihr Vorsitzender fördern ganz bewusst eine Geisteshaltung, die sie für eine große Klientel zu einer Projektionsfläche für eine Palette von Wünschen macht. Der Politologe Panos Kazakos bezeichnet dies als einen „ideologisch verankerten Illusionismus“, der „im Treibhaus geschlossener Denksysteme und parteipolitischer Introvertiertheit“ entsteht. Das stört aber die Wähler im Moment nicht sehr. SYRIZA und Tsipras haben den Vorteil, noch nicht von der Macht korrumpiert zu sein. Beim oft auch fragwürdigen Buhlen um Stimmen drücken die Sympathisanten der Partei ein Auge zu. Der Linkspolitiker gab etwa jüngst Vertretern von Jägerverbänden die Zusicherung, dass die Jagd keinesfalls abgeschafft werde. In Griechenland soll es immerhin an die 500.000 Menschen geben, die diesem Hobby legal oder illegal nachgehen.
„Die Hoffnung kommt“. Das ist der zentrale Slogan der SYRIZA-Kampagne, der jeden Fernsehspot beherrscht und von jedem seiner Plakate leuchtet.
Diese Strategie des Linksbündnisses kann aber ins Auge gehen, wenn die harte Realität das Umsetzen von Versprechungen vereiteln sollte. Und ob die Wähler dann Nachsicht mit ihrem jetzigen Hoffnungsträger Alexis Tsipras walten lassen, kann empirisch ausgeschlossen werden. Die Umwälzungen der letzten Jahre in der Parteienlandschaft Griechenlands sind ein Beweis dafür.