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„Ich habe mich hingekniet und die Erde geküsst“

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Unser Foto (© S. Grütz) zeigt den Ingenieur Thanasis Karajannis. Unser Foto (© S. Grütz) zeigt den Ingenieur Thanasis Karajannis.

Die Neuerscheinung aus unserem Verlag beschäftigt sich mit der Geschichte der Flüchtlinge des Griechischen Bürgerkriegs (1946-1949) in Leipzig/Sachsen. Einer der fast 30 Zeitzeugen, die zu Wort kommen, ist Thanasis Karajannis.

Meine Familie stammt aus Thourio, das ist ein Dorf südlich von Orestiada. Ich hatte fünf Geschwister, allerdings habe ich meinen zwei Jahre vor mir geborenen Bruder nicht kennengelernt, er ist kurz nach der Geburt gestorben. Meine Eltern waren Bauern − wie die meisten Menschen im Evros-Gebiet. Einer meiner Brüder ist im Bürgerkrieg gefallen, meine älteste Schwester starb 1992. Aber zwei Schwestern leben noch − eine in Ioannina und die andere im Heimatdorf Thourio.

Griechenland habe ich am 20. August 1948 verlassen, da war ich gerade 16 Jahre alt und hatte bereits zwei Jahre lang in den Reihen der Demokratischen Armee gekämpft. Den Entschluss, Griechenland zu verlassen, habe ich selbstständig getroffen. Eines Tages kamen Partisanen in unser Dorf und fragten, wer von uns Kindern ins Ausland gehen würde. Ich meldete mich sofort, denn das Leben im Dorf war inzwischen zum Martyrium geworden. Mein Vater war von Regierungssoldaten mehrfach verhaftet und geschlagen worden. Eines Tages war es besonders schlimm, als sie ihn halbtot geprügelt nach Hause brachten. Im Grunde waren wir täglich dem Terror der Regierungstruppen ausgesetzt. Ich musste also nicht lange überlegen und begab mich zu der Sammelstelle, die die Partisanen für die Flüchtlinge auf dem Friedhof des Dorfes eingerichtet hatten. Da sich auch mein Vater zur Flucht entschlossen hatte, fiel mir der Schritt nicht sonderlich schwer.

Während unserer Flucht wurde unser Treck von Flugzeugen der Regierungsarmee beschossen. Ich hatte Glück und überlebte. Am 4. April 1950 kamen wir in Berkowiza (Bulgarien) an, wo sich eine zentrale Sammelstelle für die griechischen Kinder befand. Im Sommer desselben Jahres kam ich nach Radebeul. Ursprünglich stand ich gar nicht auf der Liste der Kinder, die nach Deutschland gehen sollten. Aber mein Vater hatte mit Erfolg interveniert. Er war wohl überzeugt, dass wir dort eine bessere Ausbildung bekommen würden als in den anderen Volksdemokratien. Ich weiß nicht, wie er das hinbekommen hat, aber es war ihm gelungen, mich als Betreuer für noch jüngere Flüchtlinge anzumelden. Manche waren tatsächlich gerade einmal sechs oder sieben Jahre alt. Da ich von meinem Vater entsprechend instruiert war, blieb ich ruhig, obwohl ich bei der Verlesung der Namen für das Deutschland-Kontingent nicht dabei war.

Natürlich löste der Zielort Deutschland bei mir zunächst Bedenken aus, schließlich hatte ich noch die Okkupation der Wehrmacht in Erinnerung. Aber ich glaubte den Erzählungen der Älteren, die uns beruhigten, wir kämen in ein anderes, ein freies und antifaschistisches Deutschland. Bereits die ersten Eindrücke angesichts des herzlichen Empfangs unmittelbar nach dem Überschreiten der Grenze von der Tschechoslowakei her waren überwältigend. In Bad Schandau wurden wir unter anderem von Angehörigen der Organisation Freie Deutsche Jugend begrüßt. An eines der Lieder, die sie sangen, kann ich mich noch erinnern: „Bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jungend, bau auf. Für eine bessere Zukunft richten wir die Heimat auf!“ Zwar verstand ich damals den Text nicht, aber da ich das Lied noch oft hörte, erschloss sich mir später der Inhalt.

Die erste Station in Deutschland war Bischofswerda, wo wir nach vier Tagen Zugfahrt einer gründlichen Körperreinigung unterzogen wurden. Viele der Kinder waren verlaust. Hier bekamen wir auch neue Kleidung. Als Gruppenbetreuer hielt ich Kontakt zu Vertretern der Organisation „Volkssolidarität“, die uns mit Nahrungsmitteln und Süßigkeiten versorgten. Die Stimmung unter den Kindern lässt sich nicht eindeutig beschreiben. Auf der einen Seite waren alle froh, den Kriegswirren entronnen zu sein. Auf der anderen Seite mussten sie sich erst an die neue Situation in einem fremden Land und den schmerzenden Verlust von Eltern, Geschwistern und Freunden gewöhnen.

Auszug aus unserer Neuerscheinung „Zwischen Heimat und Fremde

Heimat und Fremde Cover 500

 

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