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Spaziergang zu den Klippen

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Foto (© Griechenland Zeitung / Jan Hübel) Foto (© Griechenland Zeitung / Jan Hübel)

Gegen drei Uhr am Nachmittag liefen sie los, den alten Weg durch die Olivenhaine, in denen schon fast überall die Netze für die bevorstehende Ernte ausgebreitet lagen. [...] Nora und Leo Ernst liefen durch einen düster und geheimnisvoll anmutenden Wald voller knorriger alter Bäume, mit alten, abgestuften und teils vermoosten Natursteinmauern.

Kurz vor dem Dorf bogen sie nach rechts ab. Eine Weile folgten sie dem Weg, dann hielten sie sich an einer Gabelung nach links auf den Weg zum Monastiri und nach Vrachos. Bald hatten sie die Olivenhaine verlassen und befanden sich inmitten der kleinwüchsigen Macchia. Ab hier gab es keinen Schatten mehr. Kurz danach sahen sie wieder das tiefblaue Meer, es lag direkt unter ihnen. Sie liefen weiter die Küste entlang, oberhalb eines recht steil abfallenden Hangs. An der Stelle, wo der Weg scharf nach links abbog, dort wo es etwas landeinwärts wieder Olivenbäume gab, blieb Leo Ernst stehen. Er wirkte sehr nachdenklich.

„Bis hier reichen meine Erinnerungen“, sagte er, „hier hatten wir den heftigen Disput.“
„Ist es hier passiert? “, fragte Nora.
„Nein, wenn, dann ein Stück weiter, dort wo die Klippen beginnen. Es muss da vorne passiert sein.“
„Pappous, das alles sieht so friedlich aus, die Landschaft, das Meer, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass hier so etwas Schreckliches passiert sein soll.“
„Ach Nora, was gäbe ich darum, wenn Deine Ahnung richtig wäre“, sagte Leo Ernst fast abwesend. „Es war der allerletzte Versuch, noch einmal zusammenzukommen“, fuhr er fort. „Wir sind spontan vom Haus aus losgelaufen. Wir wollten uns beide etwas Wichtiges mitteilen, etwas, das wir über all die Jahre versäumt hatten uns zu sagen. Aber es gelang uns nicht mehr, nicht in dieser von Misstrauen und gegenseitigen Erwartungen erfüllten Situation. Wir warfen es uns nur noch vor die Füße, wie lästigen Abfall, voller Schmerz und Bitterkeit.
Irgendwann konnte ich einfach nicht mehr, es war ausweglos, wir hatten uns nichts mehr zu sagen. So großartig und schön über die vielen Jahre die Liebe zu Deiner Großmutter gewesen war, so hässlich und unversöhnlich war ihr Ende.
Mit einer unheilvollen Mischung aus Ohnmacht, Verzweiflung und Wut muss ich dann zum Kloster gerannt sein, anders kann ich es mir nicht erklären. Ich weiß nur, dass ich nichts mehr richtig sah, weil mir Tränen in den Augen standen, dann riss der Film vollends. Meine nächste Erinnerung setzt erst wieder ein, als ich im Dorf nach ihr fragte, bei Freunden, Bekannten, überall. Aber niemand hatte sie gesehen. Gegen elf Uhr am Abend, nach mehreren Telefonaten und verzweifelter Suche, verständigte ich die Polizei.“

Die Polizei stellte andauernd überflüssige Fragen, ständig versuchte sie zu beschwichtigen, bis Leo Ernst sehr laut und sehr deutlich wurde. Er verlangte unmissverständlich eine sofortige Suchaktion. Ab da war der unerklärliche Widerstand der Beamten gebrochen. Zwei Gruppen zu je zwei Mann wurden losgeschickt. Eine suchte bis zum Morgengrauen mit Handscheinwerfern auf dem Weg bis zum Dorf, eine andere stellte die Hafenpolizei, die mit noch stärkeren Strahlern an Bord die Küste entlangfuhr. Das Ergebnis ist bekannt. B.M. war verschwunden, wie vom Erdboden oder den Tiefen des Meeres verschluckt.

Auszug aus dem Buch: „Fisch mit Heraklit“ von Wolfgang Tolk

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