Odysseus, Held der griechischen Mythologie, irrte auf der Suche nach seiner Heimatinsel Ithaka zehn Jahre durch den Mittelmeerraum. Nun liegt es in der Natur von Mythen, allenfalls aus einem Fünkchen Wahrheit zu bestehen. Stellt sich zum Beispiel die Frage, ob Odysseus – vorausgesetzt ihn gab es – tatsächlich die Höhle des einäugigen Riesen Polyphemos besuchte? Und wenn ja, wo diese Höhle gewesen sein könnte? Die Spur führt zunächst zu den Zyklopeninseln vor Sizilien.
Nachdem sich Odysseus und seine Getreuen aus der Höhle des Polyphemos befreit hatten, warf ihnen der Zyklop gewaltige Felsbrocken nach, die heute seinen Namen tragen. „Sizilien, wieso Sizilien?“, fragt man dagegen auf der Sporadeninsel Alonissos. Hier ist man sich sicher: „Die Höhle des Polyphemos befindet sich zweifelsfrei auf der benachbarten Insel Gioura.“ Sie liegt nordöstlich von Alonissos. Gioura ist ein raues Stück Erde mit vielen Steilklippen und wenig Vegetation. Mit etwas Glück kann man vor der zerklüfteten Küste die seltenen Mittelmeer-Mönchsrobben beobachten. Ab und an kommen Jäger auf die unbewohnte Insel, um wilde Ziegen zu schießen. Die Höhle von Gioura ist die größte der Nördlichen Sporaden. Sie hat die Maße 40 mal 50 Meter und kommt auf 15 Meter Höhe. Nach Vandalismus und einem Unfall ist sie nicht mehr für die Öffentlichkeit zugänglich. Ob hier wirklich Polyphemos hauste? Forscher fanden bei Ausgrabungen Knochenreste auf Gioura. Ein sensationeller Fund, auch wenn die Knochen keinem Riesen gehörten. Es waren die Überbleibsel einer zirka 70-jährigen Frau, die bereits vor 11.000 Jahren auf der Insel lebte. Ob sie die Geschichte des Zyklopen Polyphemos kannte, der Odysseus in seiner Höhle gefangen hielt, werden wir leider nie erfahren.
Alexander Jossifidis