Drei Jahre habe ich in Athen gelebt und gearbeitet. Besonders beeindruckt hat mich und mein Auto (Stoßstange hinten, Kotflügel vorne rechts und links) der Verkehr. Eine Mischung aus Chaos, Rücksichtslosigkeit, Ängstlichkeit, überraschenden Fahrstilen und strengen Verkehrsverordnungen mit erstaunlich hohen Strafen, z.B. 750.- Euro für Motorradfahren ohne Helm.
Ich habe mich anfänglich gefragt, wieso trotzdem so gut wie keine Geschwindigkeitsbegrenzung eingehalten wird, regelmäßig noch drei bis fünf Fahrzeuge über die Kreuzung fahren, obwohl die Ampel schon auf dunkelrot steht, links abgebogen wird, wo es verboten ist und sofort zu einem Rückstau führt, von rechts Überholen auf der Autobahn und nicht getragenen Motorradhelmen gar nicht zu reden.
Ich dachte mir dann, das liegt wohl an der geringen Präsenz der Polizei auf den Straßen. Meinen Fahrstil habe ich erfolgreich angepasst. Jetzt wurde ich nicht mehr angehupt und mit herablassendem Lächeln überholt wie am Anfang, als ich bei Tempolimit 50 nur 80 gefahren bin. Links abbiegen direkt am blauen Schild mit dem weißen Geradeaus-Pfeil wurde von anderen Verkehrsteilnehmern durchaus anerkennend goutiert.
Dann hatte ich ein Erlebnis, wo mir klar wurde, warum so wenig Verkehrshüter auf den Straßen zu sehen sind und es meinen temporären Landsleuten und mir damit leicht gemacht wird, uns so munter und hemmungslos im Verkehr zu tummeln.
Mein Schwager Jannis und Christina, seine deutsche Ehefrau, hatten meine Frau und mich zu einem Ausflug ins Hinterland von Tripolis eingeladen. Wir fuhren gemütlich über einsame Straßen, weit und breit keine Menschenseele, scherzend, lachend, Gegend genießend.
Hinter einer Kurve, völlig unerwartet, wir perplex, Polizei. Auf der Gegenfahrbahn ein streng dreinblickender, älterer Polizeibeamter in adretter Uniform. Der kontrollierte den Pickup eines weißbärtigen Bauern, der dem Beamten die Rück- oder Bremslichter zu erläutern schien.
Auf unserer Seite ein junger Polizist, der aussah, als wäre er gestern frisch von der Polizeischule gekommen. Er trat lächelnd und mit einem Blick, der für kommende Unannehmlichkeiten um Nachsicht bat, an das Fahrerfenster. Mein Schwager grüßte freundlich und fragte, was sie denn hier in dieser abgelegenen Ecke des Peloponnes machen würden. „Fahrzeugkontrolle“ sagte der junge Polizist. „Fahrzeugkontrolle? Hier wo keiner vorbeikommt?“ staunte Jannis. „Aber Sie sind doch da“, meinte der Beamte, „das reicht ja erst mal. Kann ich bitte Ihren Führerschein sehen?“ und blickte über die Schulter zu seinem Vorgesetzten auf der anderen Straßenseite, ob der ihm bei seinem professionellen Auftritt zuschaute.
Jannis suchte in seinem Sakko nach der Brieftasche,erfolglos. Er kramte in den Ablagen der Fahrertür, nichts. „Christa, schau doch mal im Handschuhfach nach“. Wieder Fehlanzeige. „Tut mir leid, ich habe meinen Führerschein nicht dabei.“
Der Beamte sah ihn tadelnd an. „Dann zeigen Sie mir doch bitte den Fahrzeugschein“, meinte er gnädig und drehte den Kopf wieder zu seinem Chef, der aber immer noch mit den Rücklichtern des Pickups und dem Bauern beschäftigt war. „Den Fahrzeugschein habe ich auch nicht dabei“ sagte Jannis, nun schon ein bisschen schuldbewusst. Der Polizist, noch hoffnungsvoll: „Ja was haben Sie denn dabei, vielleicht den Versicherungsnachweis?“ Der Vorgesetzte auf der anderen Straßenseite war inzwischen in eine intensive Diskussion mit dem Bauern verstrickt, vermutlich darüber, ob beide Bremslichter aufleuchten müssten oder ob eines reichte.
„Auch nicht. Ich habe meine Brieftasche zu Hause vergessen, da sind alle Papiere drin“. Der junge Polizist trat von einem Bein aufs andere, unsicher, was er jetzt machen sollte, schaute aus den Augenwinkeln wieder zu seinem Boss und beugte sich dann ins Auto, Blick leicht verzweifelt: „Sie werden doch irgendwas dabei haben. Zeigen Sie mir irgendein Papier“, flüsterte er.
„Christa, schau mal in deiner Handtasche nach“. Sie suchte und zog ihre deutsche Krankenversicherungskarte heraus. Die hielt Jannis dem jungen Polizisten hin, der nahm sie, richtete sich auf, warf einen prüfenden, angestrengten Blick darauf und gab sie Jannis zurück. „Gut, alles in Ordnung. Sie können weiterfahren“, sagte er laut, so dass sein Chef das auch hören konnte. Mit ausladendem Schwung seines rechten Armes winkte er uns weiter. Jannis gab Gas und wir fuhren los. Wir schauten uns an, und jeder sah dem anderen an, was er dachte: das gibt es nur in Griechenland.
Das, dachte ich mir, ist die Erklärung für die geringe Präsenz der Polizei auf den Straßen: viele wollen nicht in Situationen geraten, wo sie gegenüber ihren Landsleuten unangenehm werden müssten. Sie sind einfach zu nett, um ihre Mitbürger wegen kleiner – oder auch nicht so kleiner - Übertretungen zu bestrafen. Und da gibt es halt einige Mitbürger, die das dann ausnutzen. Ich habe oft das Gefühl, das ist nicht nur im Straßenverkehr so.
Glückliches Griechenland? Oder glückliches Deutschland, wo so eine Geschichte eher nicht vorstellbar ist? Ich für meinen Teil lebe seit längerem jeweils ein halbes Jahr in Griechenland und die andere Hälfte in Deutschland – und bin damit mindestens ein halbes Jahr im glücklichen Bereich.
Friedrich Bruckmeyer
Dieser Beitrag wurde uns im Rahmen unseres Leserwettbewerbes zum zehnjährigen Jubiläum der Griechenland Zeitung von Herrn Friedrich Bruckmeyer aus Strasslach und Agioi Apostoloi Evvias zugeschickt. Wir möchten uns dafür ganz herzlich bedanken!
Foto: GZ/jh