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„Sfou kaputt!“

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„Sfou kaputt!“

Ich rieche es. Ich bin da. Ich höre es. Ich bin da.
Ich spüre es heiß auf meiner Haut. Ich bin endlich wieder da.
Lautes Knattern und Dröhnen der ungeduldigen Motoren, Abgase steigen in meine durch viel zu
lange Abwesenheit verwöhnte Nase, 35 Grad im Schatten bei leichter Brise.
Ela, ela, komm, komm, wir suchen uns geburtengleich einen Weg aus dem dunklen Schiffsbauch
über die wacklige Rampe durchs Hafengelände in die hellgrelle Straßenwildnis von Patras.

Nur noch 78 km bis Bartholomio.
Dort wird mich bei Sfou der erste Ouzo, weißlich trübe geworden durchs kalte Leitungswasser,
mit seinem Anisaroma betören und mir wie Muttermilch durch die Kehle rinnen.
Dort in Ilias, auf dem beidseits mit rosa und weißem Oleander bestandenen Weg wie eine
Sprungschanze schnurgerade hinabführend zum traumhaften Sandstrand vom Schwefelbad Loutra Killini erwartet mich der weite Blick übers ionische Meer, der Sonnenuntergang zwischen den Inseln Kefallonia und Zakynthos, den man niemals im Leben vergessen kann.
Dort erwarten mich Wanderwege, die, wenn man nach langem Tagesmarsch schlurfend die
Machia streift, nach wildem Oregano und Thymian duften.


Von Deutschland aus habe ich schon Massagestunden im benachbarten Kastro bei Rosi
angemeldet. Sie hat uns nicht vergessen, die alte junggebliebene, immer ausgebuchte Aussteigerin aus Darmstadt.
Und auch Athanasia, die Unsterbliche, die wir überraschen wollen, wird die Polster auf den
Gartenmöbeln für uns richten. Dort ist meine zweite Heimat. Dort darf ich ankommen.


Im nachmittäglichen Stau von Patras kommen wir nur langsam voran. Entlang des Stadtstrands, vorbei an den verfallenen drei alten Villen finden wir auch den Keramikhändler bei der Bahnüberführung wieder. Scharf links, scharf rechts und jetzt erst einmal geradeaus immer
parallel zur Küste auf der staubigen und uneben asphaltierten Nationalstraße Richtung Pyrgos.
Die Teerdecke flimmert in der Hitze.
Nach 40 Kilometern Fahrt gen Süden durch die fruchtbare Ebene lassen wir Araxos, den
Flughafen von Patras, rechts liegen.
Amüsiert haben mich schon immer die Hinweisschilder, die stets zuerst in griechischer, dann, erst kurz vor der Abbiegung in lateinischer Schrift aufgestellt sind. Jeder ausländische Tourist, der die Gegend nicht kennt und des Griechischen nicht mächtig ist, fährt zunächst an den Ortsschildern und dann an der Kreuzung, wo er eigentlich abbiegen wollte, vorbei. Es sei denn, er fährt im Schneckentempo, was bei der griechischen Hochgeschwindigkeitsdrängelei eigentlich nicht möglich, eher lebensgefährlich ist. Also hat er keine Chance. Etsi einai i soi – so ist das Leben würde Athanasia sagen.
In der Ferne entdecken wir das Kastro Chlemutsi auf seinem einsamen Berg und endlich, da
steht´s: Gastouni. Hier biegen wir ab. Schon nach kurzer Zeit blockieren Traktoren den Weg. Wir kommen nicht voran. Ich vergaß, es ist Tomatenzeit. Hier ist die Fabrik, deren geschälten und gestückelten Früchte auf unseren Tischen in Deutschland landen.
An der Kreuzung in Gastouni-Mitte muss man genau aufpassen, sonst verfährt man sich schon
wieder. Die Zeit in Gastouni scheint stehen geblieben zu sein. Die Männer im Cafenion wundern
sich und beobachten in den Sommermonaten staunend die häufig wendenden Autos. Halb schräg rechts geht´s nach Killini, einem Hafenort und halb schräg links, aber vorher etwas versteckt geradeaus nach Bartholomio und ganz links nach Lechena.

Ich kann es kaum erwarten, rutsche ganz unruhig auf meinem Sitz hin und her. Jetzt noch durch den Schilfgürtel und über die kleine, gefährliche Betonbrücke, wo ständig jemand in den Fluß fährt, weil er das Achtung-Kurve-Schild nicht ernst nimmt. Der Friedhof von Bartholomio
befindet sich direkt im Anschluß. Er ist umrahmt von einer futuristischen weißen Mauer, so dass
er schon häufiger mit einer Disco verwechselt wurde. Ich bin furchtbar aufgeregt. Fünf Jahre lang war ich nicht mehr hier und jetzt nur noch ein paar Straßen bis zu Athanasia, meiner Freundin, die ich seit meinem neunzehnten Lebensjahr kenne. Sie ist in Lampertheim bei Mannheim aufgewachsen und spricht hervorragendes Deutsch. Ich lernte sie in Bartholomio kennen als sie schon zwei kleine Kinder hatte und für die ganze Dorfbevölkerung dolmetschen musste.


Doch wo muss ich abbiegen?
Die Kreuzungen sehen plötzlich so verändert aus. Allerorts an der Durchgangsstraße sind diese
hässlich-praktischen Beton-Skelettbauten wie Pilze aus dem Boden geschossen. Nichts ist
wirklich fertig und zu Ende gebaut. Dazwischen halb abgerissene Gebäude. Überall lugen die
Bewehrungsstäbe heraus.
Wo ist das kleine, alte Steinhaus von meiner Nenn-Tante Thia Viko? Wo sind die Häuser vom
Zigarettengroßhändler Spenzaris und Athanasias Cousin, dem Bauern und Elektriker Athanasios
Marinopoulos?
Wir fahren erst mal zu weit, sind schon am Kiosk-Periptero, wo es links abgeht in die kleine
Geschäftsstraße. Also wenden. Und wieder aufmerksam schauen, langsam fahren. Wir biegen
jetzt einfach links ab und denken, dass wir uns in dem im Karrée angelegten Wohnviertel schon
zurecht finden werden. Unwirklich ist es hier. Ich erkenne nichts wieder und wir müssen uns wie
blind einen Weg durch die Straßen suchen. Immer wieder Trümmer, teilweise zerstörte Häuser,
wo man noch die Badeinrichtung im oberen Geschoß sehen kann wie die Kulisse in einem
Theater. Zerknickte Betonsäulen, kreuz und quer liegende Deckenplatten. Das sieht nicht nach
geordneter Stadtsanierung aus.
Und wirklich, da taucht es auf, das Haus von Athanasia und Michalis, intakt.
Wir parken im Schatten der Palmen und holen erst einmal tief Luft.
Was ist hier passiert? War das Erdbeben vor zwei Jahren tatsächlich so grausam? So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Athanasia erzählte mir damals am Telefon nur, dass an ihrem Haus nichts passiert sei, nach Prüfung die Statik in Ordnung sei, man allerdings wegen der Nachbeben
vorübergehend im Zelt im Gemüsegarten geschlafen habe. Aber der Rest von meinem geliebten Bartholomio? Wir steigen mit leicht zittrigen Knien aus dem Wagen.


“Athanasia, Thanasia, eisai sto spiti? Einai kaneis etho? Bist du zu Hause? “ rufe ich.
Keiner meldet sich; scheinbar ist niemand da. Alles ist still, nur eine einsame Zykade hört man
locken. Was machen wir jetzt, müde von der Reise? Wir haben noch keine Unterkunft und gleich wird´s dunkel.
O.k., gehen wir erst einmal zu Sfou einen Ouzo mit Meze-Häppchen trinken und wissen danach
vielleicht mehr. Athanasia wird schon auftauchen. Sie ist ja eigentlich immer da.
Jetzt merke ich es endlich wieder: Hier ticken die Uhren langsamer.


Auf dem Weg zu Sfou sehe ich noch vieles mir Unbekanntes. In den Nebenstraßen türmen sich
die Schuttberge zwischen Neubauten und alten, kleinen Häuschen, die das Beben überstanden
haben. Die Bäckerei finde ich nicht wieder.
In der Hauptgeschäftsstraße läuft uns Athanasios Marinopoulos, Athanasias Cousin, über den
Weg.
Die Wiedersehensfreude ist groß, der gegenseitige Wortschatz eher klein in Anbetracht der
Fragen, die wir jetzt haben. Also lacht man sich freundlich an.
Wir wollen zu Sfou, sage ich auf griechisch, ob er mitkäme?
Athanasios schüttelt traurig den Kopf. Wir gehen zusammen zu Sfous Kafenion oder besser
gesagt zu dem Platz, wo es mal stand. Auch hier querliegende Betonstücke, gerade mal von der Straße weggeschafft. „Wo ist Sfou?“ frage ich vorsichtig.
„Sfou kaputt!“ sagt Athanasios und zuckt resigniert mit den Schultern. Wir gehen weiter in ein
gegenüberliegendes Kafenion mit Blick auf das Desaster.
Ich bin total geschockt: Der alte, große Sfou tot, begraben unter den Trümmern.
Der Sfou, bei dem wir so viele lustige Abende verbracht haben. Sfou, der uns immer einen Ouzo
ausgegeben hat, weil er uns mochte und wir mehr als drei Wörter griechisch sprechen.
Wie konnte ich so lange fern meiner zweiten Heimat bleiben? Ich mache mir große Vorwürfe, als ob ich das Erdbeben und Sfous Tod hätte verhindern können.
An dem Abend bringt uns Athanasios wieder ein neues griechisches Wort bei: sismos - Erdbeben.
Ach ja, das Wort Seismologie hat denselben Wortstamm. Zwischen Zakynthos und dem
Peloponnes verläuft eine Spalte bzw. verschieben sich tektonische Platten. Das hatte schon 1953 zu einem derartigen Beben auf der Insel geführt, dass deren Hauptstadt fast gänzlich zerstört war. Und dieses Mal hat Bartholomio das Schicksal ereilt.


Schnell ist es stockdunkel geworden. Athanasios ruft seine Cousine an, um ihr mitzuteilen, dass
wir im Städtchen sind und sie sagt, wir sollen alle kommen. Sie und Michalis hätten vorhin noch
ein Mittagsschläfchen gehalten und erst jetzt unser Auto vorm Haus gesehen.
Athanasia hat einen Narren an Günter, meinem Mann, gefressen, den ich bislang noch nicht
besonders erwähnt habe, da er meine Zweit-Heimat-Gefühle nicht unbedingt teilt und meine
Begeisterung eher immer ein wenig ausbremst. Nur bei Athanasia, da fühlt er sich so richtig
pudelwohl.


Nach großem „Hallo“ macht sie uns erst einmal einen Café elliniko metrio, also mittelsüß in
kleinen Mokkatäschen und wir sinken erschöpft in ihre Gartenmöbel auf dem Balkon als wären
wir erst gestern hier gewesen. Die Grillen zirpen und die Fledermäuse umflattern die
Straßenlaterne vorm Haus wie in guten alten Zeiten. Wir können bei ihr schlafen und werden uns erst morgen um eine Pension kümmern. Auf Thanasia und ihre Familie ist Verlaß.
Wir bringen uns erst einmal gegenseitig auf den neusten Stand. Meine liebe Tante Thia Viko
leidet seit neustem unter Osteoporose und Thanasias Eltern wohnen seit ihrer Pensionierung
wieder fest in Griechenland. Ihr Bruder hat Deutschland ebenfalls verlassen und hat nach dem
Beben zusammen mit seiner Frau ein Schuhgeschäft aufgemacht.
Und dann werde ich ganz ernst und sage, wie traurig ich über Sfous Tod bin und dass wir doch so eine schöne Zeit bei ihm hatten.
Athanasia schaut mich und dann ihren Cousin ganz irritiert an.
„Sfou kaputt“ wiederholt er. Thanasia fängt an zu grinsen. „Das ist ja der allerneuste Dorfklatsch, von dem weiß ich ja noch gar nichts. Sfou lebt, nur sein Kafenion ist ruiniert!“
Ich bin ja so froh und weine fast vor Glück. Jetzt ist meine Welt wieder in Ordnung und unser
Urlaub kann beinahe unbeschwert beginnen.
Etsi einai i soi – so ist das Leben, sagt sie und drückt mich ganz fest an ihr großes Herz.

ein bisschen erfunden und geschrieben von Birgit Müller

Nachtrag:
Wie ich im September 2011 erfahren musste, ist der liebe Sfou jetzt tatsächlich gestorben und
seine Witwe erzählt nur Gutes über ihn.
Athanasia klärte mich über seinen Spitznamen „Sfou“ auf: Sfou, dessen richtigen Namen ich gar
nicht kenne, hatte regelmäßig Gäste, die ihre Rechnung nicht bezahlen konnten. Sie tranken einen Kaffee oder Ouzo und ließen anschreiben. Am Monatsende nahm sich Sfou dann die Strichliste zur Hand und sagte: „Der bezahlt nicht und wischte die Schulden mit einem – Sfou- einfach fort.“ Sfou heißt nämlich übersetzt wisch oder wusch. Das muss man wissen…

Dieser Beitrag sowie die Fotos wurden uns im Rahmen unseres Leserwettbewerbes zum zehnjährigen Jubiläum der Griechenland Zeitung von Frau Birgit Müller zugeschickt. Wir möchten uns dafür ganz herzlich bedanken!

Sfou2

 

Blick von Kastro auf Kefalonia

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