Die riesige, einem Flugzeugträger nicht ganz unähnliche Fähre steuert gemächlich den Hafen von Igoumenitsa im Westen Griechenlands an. Ich sitze noch in der Cafeteria und schlürfe meinen Frappe, meinen kalten Kaffee nach einer durchwachten, kalten Nacht. Ruhige und unruhige Gedanken wechseln sich ab, pulsieren durch mich hindurch, machen sich immerzu Luft.
Hier, genau hier, ja spätestens hier beginnt mein neues Leben. Erst jetzt fühle ich beinahe körperlich, was ich hinter mich gelassen habe, buchstäblich alles, alles, was mein bisheriges Leben ausmachte. Ich sehe umher schwirrende Menschen an Deck, am Kai. Ich sehe Autos auf die Ankunft der Fähre wartend, ich sehe eine Straße, auf der Kellner die Cafes öffnen. Es ist Morgen, früher Morgen in Griechenland. Mein neues Land begrüßt mich, mein neues Leben beginnt.
Ich möchte hier nichts mehr als alles Beengende hinter mich lassen, das mich bisher behinderte. Verlange ich zu viel? Vermutlich ja. Denn ein Land ist ein Land, nicht mehr und nicht weniger. Hat Struktur, Gebiete, Regierung, Gesetze. Ein Vertreter dieses Landes tritt auf mich zu, ich bin kaum dem Bauch des Riesenschiffes entronnen: Eine Frau in Uniform, die Zöllnerin:
“Ihre Papiere bitte!”
“Hier bitte.”
“Öffnen Sie bitte mal die Hintertür!”
“Bitte sehr.”
“Was ist denn das alles?”
Kleinlaut, ob der gesetzlichen Bestimmungen unsicher, antworte ich:
“Ich möchte eine Zeitlang in Griechenland bleiben, deshalb hab ich so viel mit.”
Dass ich tatsächlich auswandere in diesem Moment, binde ich ihr wohlweislich nicht auf die Nase. Ist mir ja selbst in diesem Moment nicht ganz geheuer. Was weiß ich, wie irgendein griechisches Gesetz darauf reagieren könnte. Ich möchte hier unerkannt eindringen, ohne großes Getöse. Bin ein unscheinbarer Mensch, der zwar aus Deutschland flieht und kaum bis überhaupt nicht weiß, was ihn hier erwartet.
“Na, dann herzlich willkommen!” Nie wieder werde ich dieses unübertriebene Schmunzeln in ihrem offenen Gesicht vergessen. Ihre festen, neugierigen braunen Augen, nicht rehbraun, eher samthäutig, bringen mich augenblicklich im wahrsten Sinne des Wortes in eine verlegene, aber dafür verliebte Stimmung.
Ich betrete griechischen, für mich geheiligten Boden und verliebe mich sofort. Was ist das für ein Land? Insgeheim habe ich das erwartet. Ich sehe mir ihre männlichen Kollegen an, die relativ teilnahmslos das Geschehen betrachten. Sehen die denn nicht, welch kostbares Geschöpf sich zwischen ihnen befindet, sich zwischen ihnen mit einer leopardengleichen Gangart bewegt. Selbst ihre Uniform kann ihre ebenmäßige Gestalt nicht zur Ungeltung verschwinden lassen. Zu vollkommen sind die Rundungen ihres Hinterns und der Brüste auszumachen. Mit einer nur ihr innewohnenden Grazie, wie ich mir einbilde, winkt sie mich durch, gewährt mir Einlass in mein neues Leben. Später sollte es noch des Öfteren in mein inzwischen beruhigtes Bewusstsein dringen, dass sie sich der Tragweite ihrer Entscheidung, mir Eintritt in dieses Land zu gestatten, gar nicht bewusst gewesen war. Wahrscheinlich hat sie nur halbwegs amüsiert einem dieser alternativen Spinner erlaubt, sich in diesem toleranten Land zu tummeln. Ich, ermuntert durch ihr Willkommen, fahre also los, betrete, nein befahre mein Paradies, meine neue Heimat, mein neues Leben. Das ich fortan immer wieder mein Paradies nennen werde.
Nach Stunden besteige ich langsam den berüchtigten Katarapass. Mein Mazda keucht, schließlich wiegt der Inhalt, mein neues Leben, einige Kilos. Ich erreiche Metsovo, den höchsten Punkt, es beruhigt mich. Da geschieht es: In einer nach links sich windenden Kurve kracht das Getriebe, das Auto stottert, hält, es gelingt mir, ein Abwärtsrollen nach hinten mit Hilfe der Bremsen einschließlich der Handbremse zu verhindern. Mit zitternden Fingern drehe ich mir eine Zigarette, ziehe die ersten zwei Züge weit ausholend ein. Ich muss mich beruhigen. Eine Panik befällt mich. Wie soll ich ausgerechnet an dieser Stelle jemals wieder wegkommen? Was hilft mir das, wenn ich vielleicht den Türken, den ich auf der Fähre kennen gelernt habe und der vermutlich in den nächsten Stunden oder sogar Minuten hier vorbeifährt, anhalte und ihn bitten, mich zur nächsten Werkstatt abzuschleppen. Niemand wurde so ein waghalsiges Unternehmen starten, einen derart voll bepackten Kombi über den Katarapass zu schleppen. Und so lerne ich wieder etwas über meine neue Heimat: Ein Taxifahrer kommt mir entgegen. Ich kann ihn nicht gebrauchen, was soll ich mit einem Taxifahrer hier oben in den Bergen, in einer Kurve? Er hält, fragt, was los sei, ich antworte ihm: Motor kaputt. Er lädt mich ein, ich überlass mich ihm, er wird wissen, was er tut, egal, was die Fahrt kosten mag. Wir landen an der Polizeistation oberhalb von Metsovo. Wir treffen niemanden an.
„Ich weiß, wo sie sind“, sagt er und hält einige Kilometer weiter vor einer nicht sehr Vertrauen einflößenden Taverne. Vor dem alten Haus steht ein Polizeiwagen. Er bedeutet mir, hineinzugehen, er müsse weiter. Wie viel ich ihm schulde? Tipota = nichts. Ich wills nicht glauben. Er lacht. „Du hast schon genug Pech“, lacht immer noch, wahrend er davonfährt
Hannes Matthiesen
Dieser Beitrag und die Fotos wurden uns im Rahmen unseres Leserwettbewerbes zum zehnjährigen Jubiläum der Griechenland Zeitung von Herrn Hannes Matthiesen aus Thessaloniki in Griechenland zugeschickt. Wir möchten uns dafür ganz herzlich bedanken.