Schon seit der Antike ist dieses Himmelsschauspiel in Griechenland bzw. Hellas, wie es einst hieß, Anlass für das größte und erhabendste Naturfest. Viele Bewohner des Landes versammeln sich unter freiem Himmel; alt, jung, groß, klein – in Gesellschaft zu zweit, im Freundeskreis oder in größeren Gruppen. Rund um die Akropolis herrscht eine romantische Stille – im Griechenland von heute kaum vorstellbar.
Man träumt, man flüstert, gibt sich Umarmungen hin, schaut aufmerksam den Darbietungen zu: klassischem Tanz, Musik mit alten Instrumenten oder auch kleinen Theateraufführungen. Die Nacht ist warm, lang – so lange, bis die ersten Sonnenstrahlen am Horizont den neuen Tag ankündigen.
Vor langer Zeit fanden diese Rituale auch in der Bucht von Avlaki – östlich von Athen – statt. Noch heute? Vorwiegend junge Pärchen verbrachten dort, sitzend im feinen weißen Sand, diese romantische Sommernacht des Vollmonds im August. Sie verspürten hier ein wunderbares Flair, ja beinahe Heiligkeit.
Es geschah vor langer Zeit, „Es war einmal …“ Der Abendwind hatte sich längst zur Ruhe gebettet, auch die Möwen saßen weitab, ihre Köpfchen im Gefieder versteckt.
Pavlos und Selina, 19 Jahre alt, suchen ihre Zweisamkeit am linken Rand der Avlaki-Bucht. Ihrer Liebe hingegeben, unbeobachtet und wie im Traum zieht es Pavlos und Selina hin zu dem weiten, vom Mond erhellten Meer. Sie entkleiden sich, langsam, fast rituell, gehen Hand in Hand zum Ufer, lassen langsam ihre Füße, ihre Beine, dann ihren Körper vom warmen Wasser umspülen. Sie schauen sich wortlos an, zärtlich legt Pavlos seine Arme um sie, streichelt ihre schwarzen, seidenen Locken. Im Gegensatz zum ruhigen Meer spüren beide ein aufwühlendes Rumoren. Ein langer, ein hingebungsvoller Kuss lässt ihre Körper und Seelen verschmelzen.
Die ersten Möwen kreischen über dem Meer, auf der Suche nach Nahrung, der Mond begrüßt noch kurz die aufgehende Sonne, die ihn mit ihrem Purpurglanz zudeckt. Pavlos und Selina liegen noch eng umschlungen, als ein plötzliches Knarren sie aus ihrem Traum schreckt. Wie weggezaubert ist die romantische Szenerie. Pavlos zwingt sich, die Augen zu öffnen. Er braucht ein Weilchen, bis er sich zurechtfindet, zurechtfinden muss!
„Καλημέρα κύριε Παύλο! Aufstehen! Heute ist doch ihr großer Tag!“
Die Krankenschwester, seine persönliche Pflegerin, öffnet die Jalousien, sodass die morgendlichen Sonnenstrahlen sein Zimmer in ein helles, vertrautes Licht tauchen. Zum Glück kann Pavlos in seinem hohen Alter noch zu Hause sein, fürsorglich gepflegt von seiner Jolina, der Pflegerin.
Langsam, ganz langsam schwindet sein wunderbarer Traum, seine Selina schwebt irgendwo da droben, immer noch in seinem Herzen, in seiner Sehnsucht. Im Wohnzimmer nebenan hört er Gemurmel, Geschirrklappern … So früh am Morgen? Seltsam.
Jolina hilft Herrn Pavlos aus dem Bett, dann hinein in den Rollstuhl, hinüber ins Bad und nach geraumer Zeit – frisch rasiert, frisiert und in seinem besten dunklen Anzug führt Jolina den alten Mann hinüber in die Wohnstube und bleibt mit ihm einen Moment in der offenen Tür stehen.
Seine kleine, große Familie steht dort mit strahlenden Augen. 100 Kerzen flammen leicht zitternd auf der großen Tafel, Blumen rundherum verströmen einen wohligen Duft und locken zum gemeinsamen Geburtstagsfrühstück. Herr Pavlos kann nichts sagen, Worte des Glücks kann er nicht mehr aussprechen. Aber seine Seele, seine Dankbarkeit für sein langes Leben schenken seinen alten Augen einen berührenden Glanz.
„Χρόνια σου πολλά!“ lieber Opa, alles Liebe und Gute zu Deinem hundertsten Geburtstag.
Seine kleine Urenkelin Selina, die dreijährige Selina, klettert mit Leichtigkeit auf seinen Schoß und rollt mit ihm durch die Stube. Der alte Pavlos streichelt ihr feines, lockiges, schwarzes Haar, er lächelt. Ihre dunklen, großen Augen leuchten und zaubern seine längst verstorbene, so sehr geliebte Selina mitten in die Geburtstagsfeier.
Marlisa Thumm