Das Haus liegt weit ab vom Dorf, oben in den Bergen. Die Strasse dorthin ist ein Schotterweg, den man vorsichtig und langsam befahren muss. Einige Schlammlöcher und Steine lassen die Anfahrt abenteuerlich werden. Der Blick jedoch, über den weiten Taleinschnitt bis hin zum Meer, in dem die Sonne sich spiegelt, ist zauberhaft.
Ein traumhafter Wanderweg - unerschlossen und wenig bekannt. Es kommt mir gleich der Gedanke, dass der Thassoswanderer diesen Weg genießen würde. Herauszufinden wäre nur, ob es ein Rundweg ist, dessen Ziel Agios Georgios ist, wie viele Kilometer lang er ist und wie viel Zeit er benötigt.
Doch das sind nur Randgedanken. Wir hören wegen der offenen Autofenster entferntes Hundegebell und nähern uns unserem Ziel. Rechts vom Weg führt ein steiniger, etwas steiler Pfad hinauf und kurz überlegen wir, ob wir hinauf wandern sollen. Doch den Gedanken verwerfen wir schnell, weil wir den 25 Kilogramm Sack Hundefutter, den wir im Gepäck haben, nicht hinauf schleppen können. Also steigt einer aus und räumt die Felsbrocken, die unüberwindbar scheinen, aus dem Weg. Langsam -im Schritttempo- kämpfen wir uns den Weg hinauf.
Nach etwa 100 Metern kommen wir oben auf einem Platz an. Es ist der untere von zwei Plätzen, wie wir später feststellen. Vor uns erhebt sich ein einfaches einstöckiges Steinhaus, das mitten in einem riesigen umzäunten Gelände liegt, in dem es von Hunden nur so wimmelt. Schnell ist unser Auto umzingelt, von etwa 15 Hunden verschiedener Rassen und Größen, die neugierig an unserem Auto hoch springen und versuchen hinein zu schauen.
Ein Mensch ist nicht in Sicht, und wir überlegen, kurz auszusteigen. Wir betätigen die Hupe um jemanden zu rufen, wagen es dann aber doch die Autotür zu öffnen.
Sofort bin ich von fünf mittelgroßen Hunden umzingelt, denen ich freundlich die Köpfe streichele, woraufhin sie mehr verlangen. Eine Hündin drängt sich mit einem Stock im Maul an mich heran und fordert mich auf diesen zu nehmen und zu werfen.
Ich muss mir Abstand verschaffen, um ans hintere Ende des Autos zu gelangen, die Klappe zu öffnen und den Sack Hundefutter hinaus zu hieven. Da kommt langsam die kleine Gestalt einer Frau auf uns zu. Ebenfalls umringt von Hunden.
Sie ist mit ihren vielleicht 1.65 m etwa in meiner Größe, schlank und eher hager. Ihr Gesicht wirkt wie das von den alten griechischen Frauen, die ein Leben, geprägt von harter Arbeit und Sorgen, geführt haben. Es ist faltig und sieht ausgemergelt aus. Sorgenvoll. Älter als sie wahrscheinlich ist. Sie begrüßt uns. Mein erster Gedanke ist: Sie muss unbedingt zum Zahnarzt. Es tun sich Zahnlücken auf, die ihr Gesicht noch älter erscheinen lassen.
Wir stellen uns einander vor und ich erkläre ihr den Zweck meines Besuches. Wir wollen einen kleinen Hund adoptieren. Einen, der mit Kindern gut ist und ein zu Hause braucht. Einen etwas älteren, der schon aus der Welpenzeit heraus gewachsen ist. Den perfekten, stubenreinen, intelligentesten, friedlichsten und freundlichsten Hund eben. Und indem ich das sage, komme ich mir super dumm vor. Hier haben wir es nicht mit den Filmhunden zu tun, hier sind wir nicht in unseren Träumen. Hier ist die harte Realität zu Hause. Diese mehr als 200 Hunde und noch etwa 30 Welpen, die sich vor uns auf dem umzäunten Gelände aufhalten, hatten keine Wahl. Sie wurden gefunden, verlassen, ausgesetzt, weggeworfen - wie Abfall. Diese Hunde haben jeder für sich, eine eigene traurige Geschichte erlebt, ums Überleben gekämpft, und sind letztendlich hier bei Susann gelandet. Wo sie ein kleines Stück Respekt und Liebe zurückbekommen. Wo sie mit Wasser und Futter versorgt werden, ihren Auslauf haben und nicht an einer kurzen Kette an einen Baum gebunden sind. Wo ihre körperlichen Wunden ärztlich versorgt werden und ihre seelischen langsam heilen - in einem Verband, in einer Gruppe, die hoffnungslos überfüllt scheint und wo trotzdem jeder seinen Platz findet.
Natürlich habe ich das alles nicht sofort wahrgenommen. Seit meinem ersten Besuch dort sind noch weitere dazu gekommen. Auf meine Fragen habe ich von Susann Antworten bekommen und Geschichten gehört - über Hunde und Menschen die haarsträubend, lustig, traurig und differenziert sind. Die mich beschäftigen und mitreißen. Die mich mitten in der Nacht wach werden und zweifeln lassen. Sie berühren mich. Doch was kann ich tun? Bin ich doch selbst eingebunden in meine Welt. Habe meine eigenen Kämpfe in diesem wirtschaftlich verzweifelten Griechenland -mit Mindestlohnsätzen die bei 450 Euro monatlich anfangen und kein Auskommen sichern- zu kämpfen. Habe meine eigenen Kinder zu unterstützen, die bei fünf Monaten Arbeit im Jahr und drei Monaten Arbeitslosenunterstützung noch weitere vier Monate ohne Einkommen leben müssen - denn die Insel bietet nur Saisonarbeit. Die auch ein Recht auf Leben haben, auf Jugend und auf ein klein wenig Lebensqualität. Soziale Hilfen, vernünftige Krankenversicherungen, freier Zahnarzt - all das gibt es hier nicht. Man muss seine eigene Kraft und sein eigenes Geld nutzen. Staatliche Hilfen gibt es nicht und so bleibt nur die familiäre Hilfe.
Doch auch all das hat Susann nicht. Sie ist allein mit einer kleinen Gruppe freiwilligen Helfern. Mit Menschen die ihr wohlgesonnen sind, die für sie und ihre vielen heimat- und familienlosen Hunde sprechen. Die Geld erbetteln und erfragen, damit die Hunde täglich ihr Futter bekommen, damit sie sterilisiert und kastriert werden können, damit es nicht noch mehr Nachwuchs gibt. Damit die kleinen und großen Wunden versorgt werden können, die andere Menschen ihnen zugefügt haben.
Bei Susann gibt man den Jagdhund ab, der einem ein Begleiter für einige Jahre gewesen ist. Nun ist man ihm überdrüssig geworden, er bellt zu laut, er jagt zu wenig. Aber erschießen kann der Besitzer ihn nicht, dazu hat er zuviel Herz. Daher bringt er ihn zu Susann. Sie nimmt ihn, ohne Futtergeld zu fordern. Sie nimmt auch jedes Jahr wieder die Welpen einer Rottweiler Hündin, weil die Herrschaften sie nicht sterilisieren lassen wollen, denn das ist ein Eingriff in die Natur. Und Susann nimmt auch die schon vermittelten Hunde wieder zurück, wenn die neuen Pateneltern es sich doch einfacher mit einem Hund vorgestellt hatten.
Auf dem oberen Platz steht eine kleine Hütte, davor stapeln sich die Säcke mit dem Hundefutter. Jeden Tag braucht Susann mindestens zehn davon, um die Horde satt zu bekommen, manchmal bleiben die Mägen sogar leer. Ein großer weißer Pudel steht wie ein Eroberer auf dem Haufen Säcke, knurrt und bellt. Wie wir erfahren bewacht er das Futter. Er ist dominant, nicht angebunden, aber kennt seinen Platz und seine Verantwortung. Er ist nicht vermittelbar und sie hat ihn schon einige Jahre. Ein hübsches Tier, aber ein schwieriger Charakter. Einige der Rottweiler-Pitbull-Mischungen fangen an sich zu kappeln. Ich fühle mich plötzlich unwohl in meiner Haut. Sie kämpfen ein wenig miteinander und jagen die kleineren Hunde aus dem Blickfeld. Aber Susann verschafft sich Respekt durch ein paar Kommandos und die Hunde trollen sich von dannen.
Ob sie noch nie in brenzlige Situationen geraten ist, will ich wissen. Doch, sagt sie. Es gab da mal einen großen Mischlingshund der sehr dominant war. Er warf sie zu Boden, das war kein Spiel mehr. Sie lag dort und krümmte sich zusammen, dachte es sei das Ende, aber dann kamen die anderen Hunde und stellten sich wie ein Schild um sie herum und der Neue gab auf. Jetzt war er nicht mehr in dem Rudel. Irgendwann war es ihm und zwei anderen gelungen den Zaun zu überwinden und fort waren sie. Sie hatte nie wieder etwas von ihnen gehört oder gesehen. Wahrscheinlich waren sie Jägern zum Opfer geworden.
Einer der Hunde schläft und wohnt in ihrem Auto. Es ist ein Mischling - wunderbar, hübsch und lieb. Er kommt zum schmusen und lässt sich gern streicheln. Warum findet er bloß keine Familie? Er will nicht im Haus wohnen, er braucht ein Auto. Und außerdem ist er Susanns ständiger Begleiter. Wenn sie unterwegs ist, dann ist sie nie allein. Immer ist eine Horde Hunde mit dabei. Bis auf den Autohund wechselt das. Aber er muss immer dabei sein! Susann kennt die Eigenheiten ihrer Findlingskinder. Nicht alle sind lieb, viele haben eine Menge durchgemacht und sind schwierig. Andere sind zutraulich und suchen die Nähe.
Ein Rüde fällt mir auf. Er ist immer bei uns und versucht eine unserer Hände zu kontaktieren, damit wir automatisch anfangen ihn zu streicheln. Es ist anfangs eher zufällig, aber dann wird es schon aufdringlich. Ich versuche ihn abzuweisen. Doch dann schaut er mit seinen braunen Hundeaugen und der mit Sommersprossen besetzten Nase so herzzerreißend, dass ich schon wieder automatisch anfange ihn zu streicheln. Er hat gleich Vertrauen gefasst und ist zutraulich. Susann möchte wissen, ob er in Frage käme. Nein, leider, er ist zu groß und wird sich wahrscheinlich nicht mit dem Sohn meiner Tochter verstehen. Der wird zu viel Angst vor ihm haben. Wie alt ist dieser Rüde? Sie fasst ihm ins Maul, zeigt mir seine Zähne und erklärt mir, dass noch Milchzähne vorhanden sind. Er ist also knapp ein Jahr alt, eher drunter. Aber ausgewachsen von der Größe her ist er. Der Hund hatte kein Problem mit dieser Behandlung.
Und was ist mit Susann? Wohnt sie in dem alten Steinhaus? Hat sie warmes Wasser zum duschen und Holz zum heizen? Kocht sie sich ihr Mittagessen und kann sie überhaupt ein normales Leben führen?
Es gibt nur spärliche Antworten auf ein paar meiner gestellten Fragen. Ich will ihr nicht zu Nahe treten, daher lasse ich einige weg. Doch habe ich schon so viel über diese Frau gehört. Im Dorf von den Leuten und über Facebook. Wenn man spendet, nimmt sie sich das Geld, heißt es. So kommt nicht alles bei den Tieren an. Und sie trinkt Alkohol. Sie ist verrückt, manchmal übellaunig und merkwürdig.
Für mich ist Susann einzigartig. Die europäische Union stellt der Gemeinde Thassos für den Tierschutz angeblich jedes Jahr 17.000 Euro zur Verfügung. Bisher hat sie davon noch nicht einen Cent erhalten. Ihre Hunde versorgt sie durch Spendenaufrufe im Internet und Hilfe von Touristen, die zufällig auf sie gestoßen sind. Im Sommer durch Spendenboxen in Supermärkten und durch Flohmärkte während der Saison und Weihnachten. Das Jahr hat 365 Tage und an diesen Tagen müssen die Hunde fressen. Die Zäune müssen repariert werden, das Wasser muss fließen. Die Tiere müssen zum Tierarzt ins 20 Kilometer entfernte Dorf nach Limenas gefahren werden um sterilisiert zu werden. Susann wird angerufen, wenn ein Hund aufgegriffen wurde, damit sie ihn abholt. Sie benötigt Benzin für ihr Auto. Sie fährt einen alten gebrauchten Jeep, der hoffentlich noch ein paar Jahre macht. Doch große Reparaturen sind kaum bezahlbar. Geld für das Telefon und natürlich ihre Lebensmittel müssen herbei geschafft werden. Sie ist 365 Tage im Jahr 24 Stunden am Tag im Einsatz. Seit 2000 lebt sie oben in dem Haus in den Bergen. Nein, sie lebt im Zelt. Im Haus kommen die schwachen oder ärztlich behandelten Tiere unter. Hier schlafen die Außenseiter, die sich in der Menge nicht sicher fühlen können. Es gibt weder Montage noch Sonntage, denn jeder Tag ist eine Herausforderung. Jeder Tag hält neue Sorgen, neue Abenteuer, neue Freude und Hingabe bereit. Für die Hunde und um Menschen zum umdenken zu bewegen. Die Arbeit von Susann ist die Arbeit in diesem Tierheim - für die Hunde. Dafür bekommt sie keinen Cent, höchstens ein paar Brosamen von dem erbettelten Geld. Eine Existenz, die eigentlich keine ist und über die man kein schlechtes Wort verlieren sollte. Eine Frau die sämtliche Anerkennung Wert ist und Hilfe von vielen Seiten benötigt, damit der Fortbestand dieses Heims für Thassos gesichert ist und die Einheimischen kein schlechtes Gewissen haben müssen, wenn sie sich mal wieder eines Hundes überdrüssig sind.
Text: Ilka Mastandreou
Foto: FOS Thassos
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