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Blick auf die Ägäis und bis nach Afrika

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Foto (© Griechenland Zeitung / Christiane Bötig): Kassos ist karg, aber dennoch sehr schön. Foto (© Griechenland Zeitung / Christiane Bötig): Kassos ist karg, aber dennoch sehr schön.

Kassos gilt als Dornröschen unter den Inseln des Dodekanes. Auf halbem Weg zwischen Rhodos und Kreta gelegen, lebt die Insel im Sommer überwiegend von ausgewanderten Insulanern auf Heimaturlaub. Sie fordern von ihr die Bewahrung ihrer Authenzität.

Als wir im April 1990 zum ersten Mal nach Kassos reisten, waren unsere Kinder erst acht und zehn Jahre alt. Wir kamen mit dem Schiff von Karpathos her mittags an und waren die einzigen Ausländer, die im Hafen von Fry ausstiegen. Wir hatten Hunger und fragten ein mit uns die Fähre verlassendes griechisches Pärchen, wo wir wohl etwas zu essen bekämen. „Bei uns, aber erst in drei bis vier Stunden. Wir waren im Winter auf Rhodos und machen unsere Taverne erst heute Nachmittag auf.“ Das war unsere Rettung, denn ein anderes Restaurant gab es damals so früh im Jahr noch nicht. Es blieb nicht bei einem Besuch. Als wir weiterreisen wollten, schenkte der Wirt unseren Kindern zwei ausgestopfte Wellensittiche. „Die sind ganz exotisch. Ich hab’ sie selbst präpariert. Nehmt sie mit und zeigt sie euren Freunden zu Hause, die haben solche Tiere gewiss noch nie gesehen.“

Rückkehr zum „Tatort“

Dann waren wir nach über 30 Jahren wieder dort, ohne Kinder natürlich. Wir wohnten im gleichen Acht-Zimmer-Hotel wie damals mit Blick auf die Ägäis und das große Kalymnos gegenüber. Die Taverne gab es immer noch, hatte inzwischen aber die Besitzer gewechselt. Und sie war beileibe nicht mehr die einzige. Jetzt hatten wir immerhin die Auswahl zwischen vier Esslokalen. Das Ortsbild war immer noch nahezu unverändert. Es gab jetzt aber eine neue, große Mole für die Fährschiffe. Der winzige alte Hafen diente nur noch Fischerbooten als Liegeplatz – und wurde jetzt abends äußerst effektvoll beleuchtet. Auch unter Wasser waren Scheinwerfer installiert, die es in allen erdenklichen Blau- und Türkistönen schimmern ließ: Ein faszinierender Anblick. Besonders fotogen war ein Fischerboot, dessen Besitzer deutlich sichtbar das Olympiakos-Enblem am Führerhaus trug.

Ein Tag in Fry

Ab 22 Uhr wurde die Nacht ruhig. Die Kirchenglocken hörten auf, im Halbstunden-Takt zu läuten, im zentralen Café saßen nur noch wenige Männer auf der Terrasse vor dem Bildschirm und schauten Fußball. Am nächsten Morgen frühstückten wir beim Bäcker und gingen dann wieder ins „Café Plateia“. Ein älterer Mann kam vorbei und forderte uns auf, mit ihm zu gehen. Wir sprangen sofort auf und schlossen uns ihm an. Wir hätten Glück, meinte er in gutem Französisch. Er sei gerade auf dem Weg zum Nautischen Museum, wo er einer kleinen Gruppe in Belgien lebender Kassioten und deren Angehörigen die Ausstellungsobjekte erklären wolle. Die Gruppe wartete denn auch schon vor der Tür des traditionellen Hauses. Viel zu sehen war drinnen nicht – aber durch die Erläuterungen von Herrn Vintiadis lernten wir viel. Er selbst war als Sohn von Kassioten in Ägypten geboren, hatte dort Arabisch, Türkisch, Englisch und Französisch gelernt. Seine Vorfahren waren wie viele andere Insulaner für den Bau des Suez-Kanals angeworben worden. Als der fertig war, fanden die meisten eine Weiterbeschäftigung bei der Kanalgesellschaft. Nach seiner Führung schickte uns Herr Vintiadis noch in die Dorfkirche. Dort sollten wir uns die Sandalen des hl. Spyridon anschauen. Der Bischof von Korfu hatte Kassos kürzlich diese Reliquie geschenkt, weil die Kassioten in Ägypten diesen Heiligen dort besonders verehrt hätten.

Der Ortsstrand von Fry ist eher dürftig cb
Der Ortsstrand von Fry

Geschäft nur im August

Wir schnappten nun unser Badezeug und gingen 150 Meter weit zum Ortsstrand von Fry. Dank unserer Badeschuhe kamen wir gut ins Wasser. Eine Beach Bar war auch da, aber kein einziger anderer Gast. Zum Mittagessen ließen wir uns in der größten Taverne des Dorfes gleich neben unserem Hotel nieder, dem „Mylos“. Wir staunten über die großen Portionen zum niedrigen Preis: die Lammkoteletts kosteten hier nur 20 Euro pro Kilo, Lamm mit Spaghetti gab es für acht und eine Bohnen-Kartoffelsuppe für vier Euro, kostenloses Dessert inklusive. Nach dem Mittagsschläfchen kümmerten wir uns dann um Möglichkeiten, die Insel kennenzulernen: Vormittags bis 14 Uhr dreht ein Minibus der Gemeinde seine Runde von Fry zu den vier anderen Inseldörfern und nimmt alle Fahrgäste kostenlos mit. Zu den beiden Inselklöstern aber fährt er nicht. Darum steuerten wir eine der beiden Autovermietungen der Insel an. Vermieterin Virginia war hoch erfreut: Sie habe vier Kleinwagen, aber heute keinen einzigen Kunden. Überhaupt lohne sich das Geschäft nur im August. Natürlich könnten wir einen Wagen haben.

Unterwegs auf der Insel

Unser erstes Ziel am nächsten Morgen ist die nur vormittags geöffnete Inseltankstelle, denn wir brauchen Sprit und mehr Luft in den Reifen. Zwei Kilometer weiter sind wir im höchstgelegenen Inseldorf Poli. In der Antike lag hier wohl eine kleine Stadt. Heute sind eine bunte Kirche und originelle Ziegenställe die markantesten Bauten. An einem der Ziegenställe steht das einzige Inseltaxi. Sein Fahrer transportiert allerdings fast keine Passagiere mehr: Er widmet sich lieber der Landwirtschaft und hat für Personentransporte keine Zeit. Die gute Straße windet sich noch über drei Kilometer weiter bergan. Plötzlich sehen wir das Libysche Meer vor uns und blicken endlos weit gen Afrika. Den gleichen Ausblick genießen wir auch 500 Meter weiter am sehr gepflegten, aber unbewohnten Kloster Agios Mamas. Zahlreiche pieksaubere Pilgerunterkünfte künden davon, dass hier Anfang September alljährlich ein großes Kirchweihfest begangen wird. Die große, moderne Klosterküche steht das ganze Jahr über offen: Wer Lust hat, kann sich einen Kaffee kochen. Das zweite Inselkloster steht in Südwesten von Kassos, gut zehn Kilometer vom Hafen entfernt. Auch dorthin ist die Straße inzwischen bestens ausgebaut, obwohl sie außer im Sommer kaum gebraucht wird. Auch hier leben keine Mönche oder Nonnen mehr, der Konvent aber wird trotzdem bestens gepflegt. Als wir dort ankommen, wird gerade die Kirchenkuppel von mehreren Arbeitern neu angestrichen. Man merkt: Ausgewanderte Kassioten investieren viel Geld in ihrer Heimat. Vom Kloster windet sich eine kurvenreiche Asphaltstraße hinunter in eine Felsbucht, die ein wenig ans kretische Matala erinnert. Am kurzen Kiesstrand mit Schatten spendenden Tamarisken stehen noch die Strandmöbel der Ende September schon geschlossenen Beach Bar. Außer uns ist niemand da. Der Wind zerzaust die Kalami-Dächer über den Strandbetten.

Kassos4 kb
Kiesstrand mit Schatten spendenden Tamarisken

Stille Dörfer

Auf dem Rückweg besuchen wir die beiden größten Inseldörfer. Da stehen viele recht neue Häuser jetzt schon wieder leer. Sie gehören Kassioten, die zehn Monate im Jahr anderswo auf der Erde verbringen. Ein einziges Kafenio ist tagsüber geöffnet, das in Arvantiochori. Kaum sitzen wir da, lässt sich Papa Dimitrios am Nebentisch nieder, einer der beiden aktiven Inselpriester. Er lädt uns ein, abends zur Flughafentaufe zu kommen. Wirt Nikolas, ein ehemaliger Sportlehrer auf Rhodos, serviert uns die Kaffees, lässt sich dann aber nicht mehr blicken. Um zu zahlen, gehe ich darum ins Kafenio hinein. Neben der Kasse erwecken zwei Flaschen Wein meine Neugierde: Sie tragen ein Etikett mit dem Abbild des Kafenios. Wird auf dem kargen Kassos etwa Wein angebaut? Ich will eine Flasche kaufen, doch der Wirt klärt mich auf: Er hätte nur diese beiden Flaschen. Freunde hätten sie ihm samt eigens gedrucktem Etikett zum Geburtstag geschenkt. Die Flaschen seien darum leider unverkäuflich. Ich füge mich in mein Schicksal, doch der Wirt zeigt Erbarmen: „Ich habe ja zwei. Ich schenk’ dir eine. Dann habe ich ja immer noch die andere.“ Und beim Gehen verrät er noch, dass der Wein natürlich aus Rhodos stamme.

Gegenüber der Kirche liegt das Kafenio der Fischer cb

Kapellen für sechs Heilige

Jetzt fehlen uns noch drei der fünf Inseldörfer, von denen keines mehr als 2,5 Kilometer vom Hafenort Fry entfernt ist. Das größte ist Agia Marina, doch Menschen sind hier überhaupt nicht auf der Straße. Gleiches gilt für Panagia. Da lohnt es sich nur, sechs lückenlos aneinander gereihte Kapellen anzuschauen. An jeder der sechs verschlossenen Türen ist ein Namensschild des Bewohners angebracht – des jeweiligen Heiligen, dem die Kapelle geweiht ist. In Emborio, dem zweiten Küstenort der Insel, können wir schließlich an einem kurzen Strand baden. Da steht für jeden nutzbar sogar ein Gefährt herum, mit dem Rollstuhlfahrer ins Wasser gelangen können. An der Wand der Taverne erweckt ein kleines Plakat unsere Aufmerksamkeit: Es wirbt für Schiffsausflüge nach Karpathos, ins kretische Sitia und zur Kassos vorgelagerten Insel Armathia. Da soll es einen grandiosen Feinsandstrand geben. Die Exkursionen sind allerdings nur im Juli und August buchbar.

Der Inselflughafen

Abends laufen wir dann zum Airport, der nur 800 Meter vom Hafen von Fry entfernt ist. Es gibt ihn schon seit 1983, doch einen Namen erhält er erst heute. Er soll nach einem Helden aus dem Befreiungskampf benannt werden. Davon aber gab es in fast jeder kassiotischen Familie einen. Deswegen hat die Einigung auf einen Helden so lange gedauert. 120 Insulaner sind zusammengeströmt, dazu sechs Soldaten, zwei Polizisten, beide Inselpriester und deren in Rente gegangener Kollege. Abends wird dann aus diesem festlichen Anlass auf dem Heldenplatz direkt vor unserem Hotel musiziert und getanzt. Am nächsten Mittag geht unsere Maschine nach Rhodos. Der Taxifahrer ist bei seinem Vieh, der Hotelier bringt uns zum Airport. Er verrät uns, was Kassos seiner Meinung so einzigartig macht: Weil die Insel überwiegend von den sommerlichen kassiotischen Heimaturlaubern lebt, darf sie sich nicht allzu sehr ändern. Diese Feriengäste wollen ein Kassos, wie es in ihrer – vielleicht stark geschönten – Erinnerung einmal war: Einfach und freundlich. 

Text und Fotos von Klaus Bötig

Diese Reportage erschien in der Griechenland Zeitung Nr. 843 am 5. Oktober 2022.

 

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