Chios ist bekannt für seine Mastixproduktion und als Heimat berühmter Reeder. Naturliebhaber aber engagieren sich seit Jahren, die ruhige Insel in der Ostägäis auch in ein Wanderparadies zu verwandeln. Einer von ihnen ist der pensionierte Lehrer Giorgos Halatzis.
Er ist schon Vieles in seinem Leben gewesen, erzählt mir Giorgos Halatzis. Als Kind sei er in den nordgriechischen Bergen aufgewachsen, „als es noch keine Mobiltelefone oder Tablets gab“. Aber wenn ich mir den pensionierten Lehrer so anschaue, bin ich mir sicher, dass ihn zu keiner Zeit irgendetwas hätte davon abhalten können, in der Natur unterwegs zu sein. Der sportlich-drahtige, großgewachsene Grieche geht zunächst 1983 nach Deutschland, um Sport zu studieren und sich als Fußballtrainer zu betätigen, während er gleichzeitig an den dort ansässigen griechischen Schulen unterrichtet. Chios wird vor 45 Jahren Teil seines Schicksals. Die Heimat vieler griechischer Reeder entdeckt Giorgos Halatzis durch seine Frau, die von dieser vor allem wegen ihrer Mastixbäume berühmten Insel stammt. Heute kennt er wie kein zweiter nicht allein die Geschichte des Mastixanbaus, sondern auch den Reichtum der chiotischen Berglandschaft und ist bestrebt, sich mit seinem zweiten großen Lebenstraum zu verwirklichen.
Orion wetteifert mit Artemins
Auf der Insel Chios werden gleich mehrere Mythen erzählt. Giorgos Halatzis möchte dieses Wissen zusammen mit dem Ausbau eines Wanderwegnetzes touristisch nutzen. Für einen dieser Mythen hat er 2017 in Österreich auf einem Symposion über die europäischen Wanderdörfer den ersten Preis gewonnen. Darin geht es um den „Kampf der Göttin Artemis mit Orion, dem Giganten“:
Der Mythos besagt, dass der erste Gründer der Insel Chios, Oinopoion, eine Schwester hatte, Evriali, die in ihrer Ehe mit Poseidon einen Sohn und Titan mit dem schönen Namen Orion gebar. Oinopoion lud seinen Neffen irgendwann ein, die wilden Drachen und Ungeheuer, die auf dem Berg Pelineos ihr Unwesen trieben, zu bekämpfen. Orion besiegte die Ungeheuer und bat den Onkel als Dank, ihm einen Kampf mit der Göttin Artemis zu ermöglichen. Er glaubte nämlich, der bessere Jäger zu sein. Gottvater Zeus willigte ein und ordnete den Berg Pelineos als Kampfort an. Orion jagte mit Artemis um die Wette, aber am Ende konnte Zeus keinen der beiden eindeutig zum Sieger erklären. Daraufhin versuchte Orion, die Göttin Artemis auf dem Berg zu küssen, da aber kein Sterblicher eine Göttin berühren durfte und die Ehre der Göttin bewahrt werden sollte, teilte sich der Berg Pelineos in zwei Teile. Auch heute noch sind diese beiden Spitzen gut erkennbar. Zum Pech des Giganten springt ihn plötzlich auch noch ein Skorpion an und beißt ihn zu Tode.
Mythische Wesen am Sternenhimmel
Die ersten Menschen, die das Universum erforscht haben, benannten einige Sterne, gar nicht mal zufällig, nach Orion und Skorpion, weil sie offenbar den alten Mythos aus Chios kannten. In unserem Fall wurde jener Stern Skorpion genannt, der in dem Moment aufgeht, in dem das Sternbild des Orion im Untergehen begriffen ist. Weil Orion sich offenbar an den Biss erinnert ... Das hatte die österreichischen Organisatoren des Wettbewerbs so begeistert, dass sie an Giorgos Halatzis den ersten Preis verliehen. Der Abdruck der altgriechischen Mythologie am Firmament ist gleichzeitig ein guter Hinweis darauf, wie wichtig den Menschen die griechischen Mythen gewesen sind. Giorgos Halatzis hat als ambitionierter Wanderer sehr schnell den kulturellen Wert und das Potenzial eines alternativen Tourismuskonzepts erkannt, das hinter diesem Wissen steckt. Und ist immer tiefer in die Materie vorgedrungen.
Exkurs in die Antike
Mythen spielen auch in unseren Zeiten eine wichtige Rolle, auch wenn uns das nicht mehr so bewusst ist. Mit dem Wandern entwickelt Giorgos einen spannenden Exkurs in die Antike. Geschichten, die sich vor dem inneren Auge entfalten und Spaß machen. So gründet dieser Wanderpionier von Chios eine eigene Gruppe. Er wandert 150 Kilometer pro Woche und sucht immerzu nach neuen Wegen, die mit antiken Mythen in Verbindung gebracht werden können. Die größte Herausforderung dabei: die Umwelt zu bewahren, für eine gute Beschilderung zu sorgen und die Wege zu sichern. Aber vor allem, „meinen Landsleuten verständlich zu machen, wie wertvoll das für uns und für die Menschen in Europa allgemein ist. Wie viele Orte gibt es wohl noch auf der Welt, an denen Mythen entstanden sind, und die wir heute noch besuchen können?“, fragt er rhetorisch. Und ein passioniertes Leuchten zeichnet sich in diesem Moment in seinem Gesicht ab.
Inzwischen hat der Mann 140 Wege auf Chios ausfindig gemacht, alles zusammen gute 1.000 Kilometer. Darunter befinden sich auch einfache Verbindungspfade, die die Menschen einst nutzten, um von einem Ort zum nächsten zu gelangen, als es noch keine Straßen gab. Giorgos hat dazu in verstaubten Inselkarten gestöbert, manche noch aus der Zeit zwischen 1903 bis 1937. Hin und wieder gaben ihm alte Geschichtsschreiber interessante Hinweise zu den Routen. Und immer wieder fragt er die Menschen vor Ort. Hat ein einsamer Schäfer in den Bergen vielleicht etwas Neues entdeckt? Oder ein kontemplativer Mönch auf der Suche nach wilden Kräutern im Wald einen zugewucherten Pfad gefunden?
Giorgos Halatzis lebt mehrmals in der Woche seine Wanderleidenschaft aus.
System und viele Standards
Mögliche Wanderungen auf Chios zu erschließen und zu vermitteln, das erfordert viel Zeit und Geduld. Giorgos Halatzis liebt es, wenn alles seine Ordnung hat, er geht deshalb Schritt für Schritt vor. Nicht im Schneckentempo, das nicht, eher in der Geschwindigkeit einer griechischen Landschildkröte. Die achtet schon genau darauf, wie sie am besten den Berg hinauf- oder hinuntergeht. Und haben seine Leute erst die Geschicklichkeit einer griechischen Bergziege erreicht, die alle Wege auch mit verbundenen Augen finden würde, dann wäre es an der Zeit, mit den Wanderwegen auf Chios in Europa die Werbetrommel zu schlagen. Zunächst ist es das Ziel, 70 Kilometer wandertauglich zu machen. Giorgos baut dabei auf die Hilfe von Einheimischen und freiwilligen Helfern. Manche kommen aus ganz Griechenland, um ihn bei der Erschließung der Wege zu unterstützen. Vor der Pandemie hatten sie einen Wanderweg von Lithi bis Agiasmata in der Europäischen Wandervereinigung zur Anerkennung angemeldet. Keine leichte Aufgabe. Es müssen 41 Kriterien erfüllt sein – in Bezug auf Landschaft, Pfadformation, Sehenswürdigkeiten, Sauberkeit, Beschilderung, Schlaf- und Rastmöglichkeiten –, damit so ein Weg in die offiziellen europäischen Listen aufgenommen werden kann.
Eine alte Steinbrücke auf dem Pfad zwischen Kampia und Agrelopo.
Chios-Pläne des Deutschen Wanderverbands
Die Pandemie hat es leider auch verhindert, dass 30 Mitglieder des Deutschen Wanderverbands für eine Woche nach Chios kommen konnten, um die Wege vor Ort zu begutachten. Wenn Giorgos Halatzis diese Leute von seiner Idee überzeugen kann, dann würde sicher auch ein guter Teil der 600.000 eingetragenen Mitglieder nach Chios zum Wandern kommen. Die Reise wurde aufgeschoben, aber sicher nicht aufgehoben. „Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Bergspitze und drei Stunden davon entfernt gelangen sie an einen wunderschönen Strand und können im Meer baden! Das wird Vielen gefallen“, schwärmt Giorgos Halatzis: „Du kannst von einem Berg, von einem Felsen, einem Canyon, zum Meer wandern. Du kommst an historischen Sehenswürdigkeiten vorbei, wie die charakteristischen, verlassenen Geisterdörfer. Oder die alten, stillgelegten Bergwerke und Kurbäder. Auf der Insel gibt es zirka 80 Orchideen-Arten. Ebenso zahlreiche Tulpensorten und verschiedene Mineralien. Manche behaupten sogar, dass hier bei uns die Geologie der Erde abgebildet ist. Dann die landwirtschaftlichen Sehenswürdigkeiten: Wir haben uns die Mühe gemacht, und die steinernen Ziegenställe der Schäfer registriert, die es auf 1.000 Metern Höhe gibt, echte architektonische Kunstwerke!“
Und ich denke, da hat der Mann gar nicht mal so unrecht. Ein weiterer Vorzug: Die Chios-Wanderwege sind reine Naturpfade, sie existieren seit Ewigkeiten und sind daher auch nur um die 80 Zentimeter breit.
Vier Inseln in einer
Am Ende muss auch ich die geplante Wanderung mit Giorgos Halatzis leider stornieren. Aber getroffen haben wir uns zumindest. Die Wege selbst ablaufen, das muss auf einen baldigen Termin in hoffentlich naher Zukunft verschoben werden. Giorgos verspricht mir, meine Reise wäre nicht vergebens, denn Chios hätte so viel zu bieten, wie vier Inseln zusammen. Jetzt möchte er diese „Zwischenzeit“ zumindest dafür nutzen, seine Wanderleidenschaft in Buchform auszudrücken. Giorgos möchte einen Führer schreiben für 25 Wanderwege. „Deshalb habe ich die ethische Verantwortung, dass die Wanderwege vorher einigermaßen gepflegt sind. Ein Grund, warum ich den Führer bisher nicht rausgebracht habe, ist der: Ich versuche, alle davon zu überzeugen, dass es gut wäre, ein festes Team zu haben, das sich ständig um die Wanderwege kümmert. Nur so kann jemand mit einer Karte alles ablaufen und sicher sein, dass es gut ausgeht“.
Blick vom Pelineos-Berg auf das Meer.
Pate für einen Wanderweg gesucht
Bei seiner Vision können Gesinnungsgenossinnen und -genossen behilflich sein:
„Sie können aber auch eine Patenschaft für ein Jahr für einen Wanderweg übernehmen. Dann kümmern sie sich selbst um das Reinigen, oder sie bezahlen eine Gruppe, die das für sie übernimmt. Das habe ich Schulen und Vereinen angeboten. Und langsam bewegt sich etwas.“ Was für eine tolle Idee, denke ich mir. Das ist doch schreib- und erwähnenswert! Zudem hatte Giorgos bereits 2006 den „Anderen Ausflug“ ins Leben gerufen. Anstatt des obligatorischen Ausflugs in eine andere Stadt buchen die Schulen eine Wanderung in der chiotischen Landschaft. Giorgos hat dann mit den Kindern vier Wanderwege gepflegt. Das Resultat: 28 Ausflüge mit insgesamt 6.500 Kindern. Mit den Kleinen ist Giorgos auch den Homer-Pfad gelaufen, einen sehr alten Pfad, den der pensionierte Lehrer in Zusammenarbeit mit Professoren für Alte Geschichte entdeckte und den er deshalb nach dem antiken Dichter Homer benannt hat, der sich in dem Ort, in dem der Weg endet, aufgehalten haben soll.
Pfad des Rebellen Drimakos
Von diesem Pfad erzählt mir Giorgos Halatzis beim Abschied. Drimakos ist eine weltbekannte Persönlichkeit, aber in Griechenland weiß die Allgemeinheit nicht mehr sehr viel über ihn, weil er seit 2004 nicht mehr in den Grundschulbüchern des 4. Schuljahres erwähnt wird. Es handelt sich um den ersten Sozialrebellen, der viel früher als Spartakus gelebt hat. Er war als der Anführer der Sklaven von Chios bekannt. Und weil sich viele Wissenschaftler mit ihm und seinem Leben beschäftigt haben, hat Giorgos dem Wanderpfad den Namen „auf den Spuren von Drimakos“ gegeben.
Wer auf Chios auf Wanderschaft gehen möchte, der findet wichtige Informationen unter: www.chiostrailsfriends.gr
(Griechenland Zeitung / Marianthi Milona)