5.30 Uhr morgens. Flughafen Athen. Das Handy klingelt. Ioanna aus Limnos will wissen, ob unsere Maschine pünktlich in 20 Minuten starten wird. Wir bejahen die Frage. „Dann stehe ich jetzt auf und bring' euch den Wagen zum Airport, den ihr bestellt habt“, sagt unsere Autovermieterin.
Ioanna ist da. Sie hat unser Auto zum Flughafen gefahren. Ihr Vater ist in einem zweiten Wagen mitgekommen, um sie wieder mit nach Hause zu nehmen. Doch es kommt anders. Als sie hört, dass wir in die Inselhauptstadt Myrina wollen, drückt sie mir die Autoschlüssel in die Hand. Wir sollen hinter ihr und ihrem Vater herfahren. Ihr Büro liegt am Weg in die Stadt, da können wir den Mietvertrag auch dort gemütlich bei einem Kaffee ausfüllen. Also heften wir uns unversichert an ihre Fersen. Nach 30 Minuten an ihrem Schreibtisch verspreche ich ihr noch, sie in vier Tagen vom Büro wieder mit zum Airport zu nehmen – dann braucht ihr Vater sie nicht hinzufahren.
Europas älteste Stadt
Als wir im Inselstädtchen ankommen, werden die Kinder gerade zur Schule gebracht. Wir machen uns auf die Suche nach einer Unterkunft. Die Pensionen sind dünn gesät, doch schließlich finden wir ein kleines Apartment. Und blicken von unserem Balkon über die Olivenbaumreihe der Familie hinweg direkt auf Europas älteste Stadt: Das prähistorische Myrina. Schon vor 4.500 Jahren lebten hier etwa 4.000 Menschen in steinernen Häusern an gepflasterten Gassen. Sogar eine Kanalisation war vorhanden. Die EU hat die Aufbereitung der Ausgrabungen für Besucher im letzten Jahrzehnt mit über 1,2 Millionen Euro unterstützt. Weitere Grabungen werden noch in diesem Jahr beginnen.
Europas älteste Stadt?
Gleich hinter den Ausgrabungen beginnt am Nautical Club der Romeikos Beach. Wir trauen unseren Augen kaum: Ihm gegenüber steigt der Berg Athos über 2.000 Meter hoch aus der Ägäis auf. Die übrigen Küsten der Chalkidiki sind nicht zu erkennen, der heilige Berg wirkt wie freigestellt. Frachter und Tanker ziehen weit draußen ihres Wegs zwischen Hellespont und Mittelmeer, direkt vor dem Sandband sind junge Kanuten mit ihrem Trainer im Kanu unterwegs. Sie pendeln zwischen zwei felsigen Halbinseln von militärischer Bedeutung. Auf der einen steht der Offiziersclub der Insel, auf der anderen ziehen sich die mächtigen Mauern einer genuesischen Burg entlang. Nachts werden sie effektvoll angestrahlt. Damwild ist zwischen ihnen zu Hause.
Wir schauen uns im Städtchen um. Der Strand säumt nur die nördliche Hälfte der Romeikos-Bucht, die andere Hälfte gehört den großen Terrassen von Cafés und Restaurants. Parallel zu dieser sommerlichen Flaniermeile durchzieht die alte, blätterüberrankte Bazargasse das kleine Städtchen. Die Handwerker von früher sind nicht mehr da, doch viele der Geschäfte sind angenehm altmodisch geblieben. Die Oma würde hier leichter ein Souvenir finden als die Enkeltochter. Die Gasse mündet schließlich auf den alten Hafen. Für dessen Fischtavernen bildet die Burg nachts ein traumhaft schönes Bühnenbild. Doch bis zum Abend ist noch Zeit, wir werden erst einmal die Strände der Umgebung erkunden. Der nur 7 km von Myrina entfernte Thanos Beach gilt als Hauptstrand der Insel. Wir kommen zu spät im Jahr: Mitte September. Die Wirte der Beach Bars machen ihre Lokale schon winterfest, Liegestühle und Sonnenschirme sind bereits weggeräumt. Richtig was los ist hier nur im Juli und August. Alle anderen Beaches bieten das gleiche Bild. Sie sind nahezu menschenleer - ideal für Urlauber, die ein ganz ruhiges Ziel für Frühjahr und Herbst suchen. Nur am Agios Ioannis Beach nördlich der Inselmetropole ist noch ein wenig los. Hierher kommen die Einheimischen der guten Fischtavernen wegen oder um im Cave Café in einem von einem Kirchlein bekrönten Felsen zu chillen. Leer sind auch die Strände, die wir später in anderen Inselteilen besuchen. Selbst an der Keros Bay, dem Windsurf-Hotspot der Nordägäis, haben die zumeist osteuropäischen Gäste ihr Equipment schon gut für die Heimfahrt verstaut. Nur noch wenige campen in ihren Wohnwagen zwischen dem Meer und Alyki, dem größten Salzsee Europas.
Schön sandig: Der Thanos Beach.
Drei archäologische Highlights
Wir widmen uns in den nächsten Tagen der Landschaft und der Geschichte. Sanft gewellte Hügel und weite Ebenen prägen das Bild der Insel. Riesige Getreidefelder dominieren, vereinzelt ragen aus ihnen niedrige Felsen hervor, die an byzantinische Ikonen erinnern. Windmühlen gibt es zu Hauf, Olivenhaine fehlen fast völlig. Nur im äußersten Nordwesten gibt es ein kleines Gebirge, aber selbst dessen höchster Gipfel ragt gerade einmal 430 Meter hoch auf. Der Inselkörper scheint aus vier Halbinseln zusammengesetzt, zwischen denen Buchten tief ins Land eindringen. Limnos, mit 476 Quadratkilometern Griechenlands neungrößte Insel (hinter Samos, vor Zakynthos), wirkt so viel weiträumiger als es eigentlich ist.
Der fruchtbare Boden und die weiten Ebenen waren neben der Nähe zum anatolischen Troja sicherlich ein Hauptgrund dafür, dass auf Limnos die beiden ersten städtischen Siedlungen Europas entstanden: Neben der von Myrina auch die von Poliochni. Italienische und griechische Archäologen haben hier sehr besucherfreundliche Arbeit geleistet. Man geht über fünf Jahrtausende altes Pflaster, sieht Mörserschalen in situ, kann die Stadtmauer identifizieren. Schilder in unterschiedlichen Farben ordnen die Ruinen den verschiedensten Phasen der Stadtentwicklung zu, die vor 7.000 Jahren begann und um 1.200 ihr Ende nahm – als die Mykener das nahe Troja zerstörten.
Limnos im September: Die Felder sind verdörrt.
Die Stadt des Schmiedegottes
Die danach eingewanderten griechischen Stämme brauchten lange, bis sie Gleichwertiges schufen. Einer ihrer Siedlungsschwerpunkte blieb Myrina. Der zweite wurde die Halbinsel, die sich gen Nordosten den Dardanellen zuwendet. Archäologen sind auch hier zurzeit wieder zu Gange – auf keiner anderen Insel wird derzeit wohl so aktiv gegraben wie auf Limnos. Allein 1,7 Millionen Euro können in diesem Jahrzehnt für das Kabireion aufgewendet werden, das ganz einsam über einer niedrigen Steilküste liegt. Man könnte sich hier ein wenig an die wilden Klippen Irlands versetzt fühlen, wären da nicht an klaren Tagen in der Ferne die Inseln Thassos und Samothraki zu sehen. Mit Samothraki war Limnos in der Antike auch kultisch verbunden: Hier wie dort strömten Pilger zu geheimnisvollen Mysterien zu Ehren der Kabiren, von denen sich die Teilnehmer wohl ein besseres Leben nach dem Tode erhofften. Die noch immer geheimnisvollen Kabiren galten als Söhne des Schmiedegottes Hephaistos. Und dessen Heimatinsel war Limnos. Hier betrieb er eine göttliche Schmiede, hier war eine ganze Stadt nach ihm benannt: Iphestaia. Die Archäologen haben das große Theater der Stadt zu Beginn unseres Jahrhunderts umfassend restauriert, so dass es wieder bespielt werden könnte – wenn denn die Gemeinde das Geld dafür hätte.
Myrinas ganzer Stolz: die Burg.
Schön schattig: Die alte Basargasse von Myrina.
Gräber überall
Fast ebenso unbekannt wie diese archäologischen Schätze der Insel ist die Rolle, die Limnos im Ersten Weltkrieg und in den frühen 1920er Jahren spielte. Nirgends sonst auf den Ägäischen Inseln sind so viele Ausländer bestattet. Während des Gallipoli-Feldzugs vom April 1915 bis Januar 1916 war das von ihnen unrechtmäßig besetzte Limnos Hauptstützpunkt der alliierten Truppen. Auf der Insel standen 18.000 Lazarettbetten für ihre Verwundeten bereit. Wer hier starb, wurde auf einem von drei Soldatenfriedhöfen beigesetzt. Nach Kriegsende strömten dann auch noch Zehntausende russischer Bürgerkriegsflüchtlinge nach Limnos – überwiegend Kosaken, die in der Weißen Armee gekämpft hatten. Sie lebten monatelang in riesigen Zeltlagern, bis sie nach Athen, Frankreich oder Amerika weiterziehen durften. Auch ihre hier Verstorbenen ruhen jetzt in limnischer Erde.
Ins Bergdorf
Nach dem Anblick all der Gräber zieht es uns in die limnischen Berge. Obwohl so niedrig, wirken sie wild, sind nahezu unbesiedelt. In Katalakos endet die Straße. Das Hangdorf und viele seiner Häuser wirken gepflegt, doch Bewohner/innen gibt es fast nur noch im Sommer, wenn die Abgewanderten hier ihre Ferien verbringen. Ein Kafenio ist geöffnet, mehr als ein Omelett gibt's nicht zu essen. Die Wirtin stammt aus Rumänien, ist hier seit 23 Jahren mit einem Griechen verheiratet. „Ich kam, um ein besseres Leben zu finden“, klagt sie. „Inzwischen aber ging's mir wahrscheinlich in Rumänien besser.“ Einer ihrer Söhne ist arbeitslos. Was ihr Mann und ihr zweiter Sohn verdienen, kassiert die Bank als Rückzahlung für den Hausbaukredit. Mit ihrem Kafenio erwirtschaftet sie etwa 150 Euro im Monat. Das muss der Familie reichen, um nicht zu verhungern. „Grüßt Schäuble“, sagt sie zum Abschied.
Von Klaus Bötig
INFO
Website: www.limnosgreece.gr
Flugverbindungen: Athen (olympicair.com), Thessaloniki, Ikaria (astra-airlines.gr), Lesbos, Chios, Samos, Rhodos (skyexpress.gr)
Fährverbindungen: U. a. mit Piräus, Lavrio, Kavala, Lesbos, Chios, Samos, Agios Efstratios
Gute Hotels: www.poseidonlemnos.gr, www.arxontikohotel.gr
Literatur: Peter Einhorn: Limnos (2013), Gerhard Pöllner: Geheimnisvolles Lemnos (2007)