Ein Besuch auf der Insel Serifos, Teil 2
Das karge Serifos gehört zu den Kykladen und ist knappe 75 Quadratkilometer groß. Das bildschöne Eiland eignet sich bestens zum Wandern und Schwimmen. Es ist ein Ort zum Entspannen und Herumbummeln, aber nicht nur.
An der Durchgangsstraße, an dem das Kloster Taxiarchis liegt, befinden sich einsame Orte, wie das sich an einen Hang schmiegende Galaní. Nur wenige Häuser sind bewohnt. Da wollen wir lieber in Panagiá Station machen. Wir sind neugierig, wie es dort aussieht. Wir parken am Ortseingang. Da sitzt der erste Alte auf einem Stuhl vor seinem Haus und grüßt. Zwei alte Frauen kommen uns aus unterschiedlicher Richtung entgegen, schwarz gekleidet. Kein Teil passt zum anderen, geschweige denn in der Größe zur Trägerin. Die Schuhe sind völlig durchlöchert. Pure Armut. Sie begrüßen sich herzlich, als sie vor den Postfächern zusammentreffen.
Das klassizistische Rathaus von Serifos
Auf dem schattigen Kirchplatz kehrt eine andere alte Frau die herabgefallenen Oliven auf. Sie hat den Schlüssel zur Kirche der Madonna und lässt uns kurz ein in das Dunkel des ältesten Gotteshauses der Insel, ein Kreuzkuppelbau aus dem 10. Jahrhundert mit verblassten Fresken aus dem 14. und 17. Jahrhundert. Was sie darstellen, erkennen wir nicht, und sie weiß es auch nicht zu sagen. Ihre Arbeitsschlappen hat sie draußen stehen gelassen und trägt drinnen saubere Puschen. Antike Säulen stützen die Bögen des Mittelteils. Alles ist in mystisches Dunkel getaucht. Schnell hat sie bei unserm Eintreten den Vorhang vor dem Allerheiligsten zugezogen. Auf dem Platz zeigt sie uns, welche Häuser zum Verkauf stehen, also praktisch alle. Die Blumen in den Kübeln pflegt sie, damit es nicht gar so verlassen wirkt. Es leben hier nur alte Leute, eine Handvoll noch, sagt sie bedauernd. Sie hört nur noch auf einem Ohr, und das schlecht. Besser, sie spricht selbst, dann fällt das nicht so auf.
Im Dorf Panagia
Kaffee aus dem Briki
Wir laufen durch die schmalen Gassen, suchen unsere nette Gastgeberin im Oinokafepantopolion (in etwa: Wein-Kaffee-Gemischtwarenladen). Ist sie noch da? Wie geht es ihr? Betreibt sie ihr Geschäft noch? Da, da ist es! Das Schild hängt aus. Tische stehen vor dem Haus, auf einigen stecken noch dünne Papiertischdecken unter den Gummibändern. Die Tür ist abgeschlossen. Wir vermuten, dass sie nur im Sommer oder nur auf Bestellung öffnet. Jetzt jedenfalls ist hier kein Kaffee zu haben. Die Frau an der Kirche hatte uns schon gesagt, dass wir, wenn überhaupt, nur gegenüber dem Kindergarten etwas zu trinken bekommen. Da haben wir aber nur ein sehr, sehr simples Etablissement mit trüben Fensterscheiben und schlichten Wachstuchtischdecken gesehen. Geschlossen. Als wir den Ort schon verlassen wollen, grüßt uns ein Alter und sagt: „Natürlich haben wir auf!“ Seine Jeans würde ganz jungen Leuten gefallen. Sie ist völlig abgetragen. Die Seiten der Oberschenkel sind komplett und großflächig ersetzt durch einen Jeansstoff jüngeren Datums. Die Flicken sind darauf festgenäht wie mit einem Patchwork-Stich. Eine dicke Alte bringt den Kaffee in Tassen älteren Datums, eine mit einem Papageien darauf, die andere mit einem Zitronenbaumgeäst, in dem ein lang geschwänzter Paradiesvogel hockt. Der Kaffee aus dem Briki schmeckt gut, eigentlich, aber es schmeckt doch nicht so gut wegen der deprimierenden Umgebung. Nach und nach gesellen sich andere Alte aus dem Dorf zu uns. Besuch, Abwechslung! Sie tun ganz unbeteiligt, spitzen aber die Ohren, was hier so erzählt wird. Ein ärmlich gekleideter, abgemagerter Alter sitzt bei uns und schläft immer wieder kurz ein. Eine offensichtlich gestörte Alte in Pullover und einem Nachthemd darüber, ausgerissene Plastikschlappen an den Füßen wie alle Alten hier, lacht bei jeder Gelegenheit. Die andern sind davon genervt, lassen sie aber gewähren. Ein bisschen gaga zu sein ist hier normal und wird toleriert.
Auf der Veranda liegen Teile von Bienenkästen herum. Zu den Füßen unseres Gastwirts lagern große leere Kanister. Darin füllt er seinen Wein ab, lässt er uns wissen – guten Rosé. Dopio, von der Insel, eigene Ernte. Wir bitten ihn um einen Liter davon. Da geht der Kyrios zu seinem Auto, leert eine Plastik-Wasserflasche aus und verschwindet im Keller. Stolz kehrt er mit einer rosa Füllung zurück. Wir haben unsern Tribut entrichtet, wir können abziehen. Wir sind richtig geknickt. Dies Dorf ist ein nicht altengerechtes Altenheim! All diese winzigen Inseln sind Altenheime! Wie wäre mir zumute, wenn ich in Athen lebte und wüsste, meine Mutter, mein Vater lebten allein dort. Wer kümmert sich, wenn sie nicht mehr einkaufen können, nicht mehr laufen. Nicht mehr kochen können? Hier kommt kein „Essen auf Rädern“ hin! Wer begleitet sie zum Arzt?
Als wir aufstehen, rappelt es gegenüber im Kindergarten. Die Halbtagskinder, genau fünf freche kleine Jungen, stehen am Gitter, rangeln, ziehen Fratzen und warten darauf, mit dem Inselbus nach Hause gefahren zu werden. Dieser Kindergarten ist für die gesamte Insel vorgesehen, alle Kleinen müssen hierhin gekarrt werden.
Endstation Sehnsucht Eine verrostete Verladerampe für Eisenerz in Mega Livadi
Die weite Bucht von Koutalas
Heute fahren wir mal auf die andere Seite der Insel über Ramos und Ganema den Berg hoch. Diese Inselseite ist noch trockener als die andere. Hier wächst so gut wie nichts mehr. Die Straße ist sehr eng und an den Rändern ausgefranst. Gut, dass kaum ein Auto entgegen kommt. Ein Pope hält verwundert mit seinem Moped an. Er will wohl wissen, wer da im Auto sitzt.
Drei sehr schöne Strände hat die weite Bucht von Koutalas. Die Siedlung selbst ist nur eine Strandsiedlung mit verlassenen, abgeschlossenen Häusern, offenbar reine Sommerhäuser. Eine Straße gibt es nicht, nur festgefahrenen Kies auf Sand. Am Rande stapelt sich unübersehbar der Rest des früheren Bergbaus der Insel. Ruinen der Bergwerksgebäude, rostige Winden, Lastwagen, Abdrücke früherer Abtransportvorrichtungen. In den Bergen greifen Höhlen tief ins Innere, Abraum türmt sich und rutscht den Hang hinab. Löchriger Käse sind diese Hänge. Grau, grün und rötlich der Stein. Kahl, kein Bewuchs, höchstens etwas niedriges vertrocknetes Kraut, kratzige Stacheln. Wir wissen, dass auf der Insel seit der frühen Bronzezeit Erze gewonnen und verhüttet wurden. Viel Schlacke von damals ist gefunden worden und ein Rest von Schmelzöfen. Die Minoer und die antiken Griechen wussten Metall zu gewinnen, Eisenerz und Kupfer. Die Insel blieb dennoch arm, viele wanderten nach Ägypten aus oder in andere Teile des osmanischen Reiches. Erst der systematische Bergbau im großen Stil ab 1867 hielt diesen Trend auf. Exporte gingen über die Verladerampen auf Schiffen bis in die USA, nach England, Schweden und Belgien.
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Das Denkmal für die Toten am 21. August 1916 im Mega Livadi
Schaufel der Bergleute
In Mega Livadi, einem anderen schönen Strand in einer Bucht, beinahe wie ein Binnensee, rosten Teile der Verladeanlagen vor sich hin. Spuren von Förderbändern, Reste einer Bergarbeiterunterkunft zerbröseln, die klassizistische Fassade des Bürogebäudes bröckelt, das Dach ist eingefallen. Müllcontainer sind davor abgestellt, fast ein symbolhaftes Bild. Überhaupt: Rostende Reste vor rostbraunem Fels. Vergangene Pracht, traurige Hinterlassenschaft. Der Ort mit Taverne und einigen wenigen Häusern, dem üblichen „Altenheim“. Im Schaukasten der Gemeinde wird ein „Schöner Winter“ gewünscht, „kalo chimona", wohl wissend, dass ein Teil der Einwohner den Winter gewiss nicht hier verbringen wird. Ein Denkmal von 2009 trägt die Büste eines jungen Mannes auf rau gesägtem Marmorsockel: Der Gründer der Bergarbeitergewerkschaft, ein Anführer im Kampf um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Am anderen Ende der Bucht ist der Bereich um das Denkmal des Bergarbeiterstreiks, der blutig endete, frisch geweißelt, die Inschrift erneuert und damit lesbar. Marmorn schütteln sich zwei armlose Hände in sozialistischer Ikonografie gegenseitig. Statt Hammer und Sichel kreuzen sich darüber Hacke und Schaufel der Bergleute. Reste einer Kranzniederlegung rotten vor sich hin.
2.000 Minenarbeiter zählte man 1912 auf der Insel, als die Gewerkschaft gegründet wurde. Im August 1916 verweigerten die Arbeiter die Beladung eines Erztransporters, ein Streik zur Erzwingung besserer Lebens- und Arbeitsbedingungen. Die Forderungen lagen im Trend der Zeit, die gleichen, die 1918 in ganz Europa gestellt wurden – etwa Begrenzung der Arbeitszeit auf acht Stunden, bessere Entlohnung, mehr Arbeitssicherheit. Der Streik eskalierte. Militär und Polizei wurden eingeschaltet, die Gewerkschaftsführer festgenommen. Auf die Demonstranten, auch Frauen und Kinder der Bergarbeiter waren dabei, wurde geschossen. Vier Tote und 30 Verletzte waren zu betrauern. Damit endete die Auseinandersetzung aber nicht. Der Minenbetreiber Grohmann, namentlich auf der Gedenkstele erwähnt, ließ Wachleute auf Demonstranten schießen. Ein Leutnant, ein Unteroffizier und zwei Polizisten wurden im Verlaufe der Auseinandersetzungen ebenso getötet. Das steht aber auf keinem Gedenkstein. Eine traurige Erinnerung!
Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es bergab mit dem Bergbau, zu viel Konkurrenz weltweit, vor allem aus Afrika. Endgültig Schluss war erst 1965.
Serifos allgegenwärtig auch auf der Papiertischdecke in der Taverne
Starke Kontraste
Um den deprimierenden Eindruck des Verfalls, des Elends und der Gewalt abzuschütteln, kehren wir bei Maria ein und trinken einen Kaffee direkt am Strand auf wackligen Stühlen. Was für eine schöne, geschützte Bucht, was für ein feiner Sandstrand.
Zurück würdigen wir noch das weiße Kloster Evangelistria mit der knallblauen Kuppel und den knallroten Apsiden-Halbkugeln. Man liebt starke Kontraste im Lande. Der „weiße Turm“ ist nur der Stumpf eines hellenistischen Turms. Auffallend ist der exakte Zuschnitt der Mauersteine. Rundum liegt ein kleiner Friedhof mit einer Kapelle.
Der Weg durch das Troulos-Gebirge führt durch steinige, unfruchtbare Gebirgszüge zurück nach Chora und zu unserem Strand von Livadakia.
Serifos ist bildschön, eine traumschöne Insel zum Wandern und Schwimmen, ein Ort zum Abhängen und Herumbummeln, aber auch eine Insel, die alle Probleme der kleinen griechischen Inseln gebündelt vorführt.
Eine Taverne in der Hafenbucht Livadi
Texte und Fotos von Hiltrud Koch