Am Hafen stehen nur wenige Häuser, alles Leben spielt sich auf der Höhe ab. Auf einem Hügel wurzelt eine alte Windmühle einsam auf dem Gipfel, drum herum braunes Feld. Ein Taubenhaus in der Senke. Auf der nächsten Anhöhe steht eine weitere Windmühle, komplett renoviert, neben einem weißen Kirchlein, umgeben von Grün. Aha, der Friedhof. Davor dehnt sich ein unvollendetes Neubaugebiet aus, eine Ferienhaussiedlung in spe, sicher nicht ohne Chic. Sicher zukunftsträchtig. Die meisten Fremden wohnen oben im Ort. Es wird kräftig gebaut. Einiges ist schon fertig, manches beinahe, anderes liegt brach, und es sieht nicht so aus, als ob die Arbeit fortgesetzt würde. Hier wird ein Stockwerk aufgesetzt, da etwas im Garten hinten angebaut. Man erwartet wohl eine Expansion des Tourismusgeschäfts. Bisher ist Schinoussa eine Insel der Ruhe. Wir hoffen, dass es dabei bleibt.
Alle kommen hier vorbei
Der Hauptort Chora liegt auf einem Bergrücken entlang der einen Dorfstraße. Die weiße Chora ist nicht ganz so idyllisch verschachtelt und so malerisch wie die anderer Kykladen, dafür sehr lebendig, bewohnt, nicht nur von Alten, sondern auch jungen Familien mit Kindern. Auf dem lang gestreckten, gewundenen Plattenweg kommt jeder mal vorbei, zu Fuß oder mit dem Auto. Davon gibt es nur wenige auf der Insel. Man kennt sich, auch die Fremden werden freundlich gegrüßt. Wir setzen uns vor das Kafenion „I Chara (Freude), und lassen die Zeit verstreichen.
Alle kommen hier vorbei, alle. Man kann auf den Auftritt der Protagonisten warten wie im Theater:
Der Pope im schwarzen Rock mit steifer Kappe auf dem Kopf hat die Abendandacht beendet und schreitet schnell nach Hause. Eine schwarz gekleidete Alte spaziert mit geradem Rücken auf und ab. Auf dem Kopf trägt sie ein schwarzes Häubchen, an dem eine Art kurzer Schleier befestigt ist, der über Schulter und Rücken fällt. Der wirkt wie der Restbestand einer alten Tracht. Die meisten älteren Menschen stützen sich auf einen Hirtenstab oder einen selbst geschnitzten Knüppel. Ein Bauer kommt mit geschulterter Hacke von der Feldarbeit. Ein anderer hat sich eine große Ladung Viehfutter auf die Schultern gepackt. Zwei Pickups können nicht aneinander vorbei. Das erfordert ein aufwändiges Ausweichmanöver. Unterhaltungen wehen von einem Wagen zum anderen. Die Mädchen sind genau so gekleidet wie die jungen Touristinnen, kurze Höschen, T-Shirts, neueste Mode. Wo kauft man so was auf den Inseln? Schuljungen jagen auf der abschüssigen Straße hinter einem Ball her. Ein dicker Bursche hat Mühe, mit seinem Fahrrad die Anhöhe zu schaffen. Abwärts lässt er das Rad einfach laufen und weicht allen Fußgängern im letzten Moment aus. Eine Mutter mit Kleinkind schimpft ihm hinterher. Die jungen Burschen haben wohl noch zu tun und laufen schnell vorbei. Auf der vorderen Terrasse eines Dorfhauses gegenüber sitzen einige Alte auf weißen Monoblockstühlen zusammen an einem Tisch mit braun-rosa Wachstuchdecke. Sie haben viel zu erzählen, die kreischenden Altweiberstimmen schallen erstaunlich weit. Die Alten tragen uralte Klamotten. Die Armut ist allzu deutlich. Aber sie sind zusammen, haben Gesellschaft und können sich noch auf eigenen Beinen fortbewegen, wenn auch teilweise gestützt auf ihre dicken langen Knüppel. Einige alte Herren sitzen mit uns vor dem Kafenion. Andere ruhen sich auf den Stühlen vor dem Supermarkt aus.
Spaziergang durchs Dorf. (Fotos: GZhk)
Im Schatten von Weinranken
Der „Kobaios Market“ bietet „Alles Gute aus der ganzen Welt“ an. Drinnen über der Kasse reißt ein ausgestopftes Krokodil in einem Glaskasten sein Maul mit den spitzen Zähnen auf. „Das hat mein Vater mitgebracht“, sagt der Ladenbesitzer. „Der hat es in Venezuela selbst erlegt. Das ist wahr! Er ist als Kapitän auf einem Schiff weit herumgekommen“. Eine Stier-Skulptur, die uns an das spanische Cognac-Symbol erinnert, hat auch noch auf den Regalen Platz. Der Bäcker preist seine Kunst mit der Versicherung: „Das bessere Brot gibt es nur aus unseren Händen“. Ein paar Schritte weiter hat die Mutter von acht Kindern aus dem gleichnamigen Laden „Ta 8 Adelfia“ über der Kasse Fotos ihrer Kinder ausgestellt, überwiegend Hochzeitsbilder. Stolz zeigt sie uns, welches ihre eigenen und welches die angeheirateten Kinder sind. Die ersten Enkelkinder sind gleich in der Reihe darunter angeordnet.
Überall im Dorf wuchern Bougainvillea und duftender Jasmin. Aus den Blumentöpfen ringeln Blumen, Weinranken beschatten die Terrassenhöfe vor den kleinen weißen Häusern. Von der Höhe haben wir einen weiten Blick aufs Meer. Für die Farbenexplosion am Himmel und auf dem Wasser bei Sonnenuntergang ist dies der perfekte Platz. Hellblau, grau, blau, dann rosa und gelblich, dann golden von der untergehenden Sonne, ein täglich sich wiederholendes Schauspiel.
Für den Gaumen
Es gibt erstaunlich viele und sehr gute Restaurants in der Chora, mehr als man in dem kleinen Ort vermuten könnte. Sie sind allerdings nicht alle ganzjährig geöffnet. Die Segler beleben das Geschäft ganz offensichtlich. „Fava“, das Platterbsenpüree ist die lokale Spezialität. Die Hülsenfrucht wird hier angebaut und die Qualität ist weithin berühmt. Schinoussa scheint nicht so sehr auf Touristen angewiesen zu sein. Die Insel lebt offensichtlich noch von der Landwirtschaft. Die Getreidefelder ziehen sich bis ins Dorf hinein. Sie sind im September längst schon abgeerntet, aber wir können uns vorstellen, wie schwierig die Arbeit hier ist. Auf den terrassierten Anbauflächen ist eine moderne Landwirtschaft mit Maschineneinsatz kaum möglich. Viehhaltung wird auch noch betrieben. Hühner gackern zwischen den Häusern im Dorf, Puten kollern, Ziegen gehen auf den Feldern und Terrassen draußen spazieren.
Blick von der Taverne zu den anderen Inseln der Ostkykladen (Fotos: GZhk)
Duft gegrillter Fische
Wir wohnen zehn Minuten von dort die kleine Straße herunter bei Giorgios Grispos über dem Tsigouri-Strand. Vom Balkon schauen wir über das glitzernde Meer hinüber nach Irakliá, genau dahin, wo wir von dort immer hierher gesehen haben. So dicht liegen die kleinen Inseln beieinander. Die Fähre braucht gerade mal 15 Minuten zwischen diesen beiden Inseln. Die frühen Seefahrer hatten es leicht, die Ägäis zu überqueren, immer von Insel zu Insel, nie weit über das offene Meer. Von der Fischtaverne unten steigt der Duft gegrillter Fische hoch. Salomon, ein Schwarzer aus Ghana, spricht fließend Englisch und Griechisch. Er bedient die Gäste direkt an der Kante über dem Wasser flink mit allem, was sie bestellt haben. Seit vielen Jahren lebt er das halbe Jahr über in Griechenland, die andere Hälfte bei seiner Familie in Afrika. Ob man nun den Winter in Athen verbringt oder in Afrika, Tourismus ist Saisonarbeit. Eine Hälfte des Jahres schuftet man Tag für Tag von morgens bis abends, die andere versucht man, sich mit dem kargen Arbeitslosengeld über Wasser zu halten. Ab 1. Oktober ist hier Schluss. Wintertourismus gibt es nur auf den größeren Inseln, wo es Kleinstädte gibt mit lokaler Bevölkerung. Über die meisten Inseln fegt ein scharfer Wind im Winter. Auch wenn Himmel und Meer das ganze Jahr blau leuchten, Wandern immer möglich ist, so zieht es die meisten Besucher doch mehr an die schönen Strände zum Baden. Direkt unter unserem Quartier liegt der feine Sandstrand von Tsigouri. Alte Tamarisken sorgen für Schatten. Aus einem netten Strandcafé simmert leise Musik in die Luft. Weiße Bimsstein-Perlen sammeln sich am oberen Spülsaum, den die Nacht hinterlässt. Der perfekte Strand! Das Wasser ist Ende September noch recht warm, glasklar sauber, ruhig, so dass man weit hinaus schwimmen kann. Sollte man Lust auf Abwechslung haben, bitte, man muss nicht weit laufen bis zum nächsten Strand.
Aber brauchen wir Abwechslung, wenn wir schon an einem der schönsten Fleckchen schwimmen? Die Ruhe der Insel bleibt nicht äußerlich, sie tropft tief in die Besucher hinein. Ruhe als eine Art Sehnsuchts-Droge. Inselsüchtig?
Text und Fotos von Hiltrud Koch