Karpenissi ist Bezirkshauptort der mittelgriechischen Präfektur Evrytania, ein bekanntes Skizentrum und liegt in einer paradiesischen Landschaft inmitten hoher Berge. Die Kleinstadt thront über mehreren sich kreuzenden Landstraßen und ist so idealer Ausgangspunkt für unvergessliche Ausflüge. In diesem zweiten Teil unserer Reportage geht es nach Proussós.
Am Anfang merkt man der Schlucht nicht an, wie dramatisch sie sich entwickeln wird. Hat man den Talgrund unterhalb von Megalo Chorió erreicht, fließt linkerhand der Karpenitsiotis mit kleinen Stromschnellen und ab und zu von einer Holzbrücke überquert, munter über Steine dahin. Die beiden Seiten der Landstraße sind dicht gesäumt von Grillgaststätten und Gartenlokalen sowie Läden, die von einheimischen Produkte überquellen: Nostalgische bäuerliche Holzgeräte, Tonwaren und bemalte Keramik, Gewürzbündel aus Oregano oder Bergtee, Gläser mit Honig und eingelegten Früchten, drinnen Käselaibe und hausgemachte Nudeln – ein vielfältiges Angebot an Andenken für Gemüt und Magen … Die Berge hinauf weisen Schilder zu winzigen alten Dörfern, von denen sich einige eine beachtliche touristische Infrastruktur zugelegt haben mit kleinen Hotels, Pensionen und Tavernen. Eines der bekanntesten ist Koryshiades, mit 45 Steinhäusern und einer hübschen Platia in 950 Meter Höhe.
Schäumender Fluss in die Tiefe
Die Straße neben dem Karpenitsiotis wird zunehmend enger, kurviger und einsamer, die Felsen treten rechts und links dichter und steiler zusammen, und plötzlich taucht ein Engpass auf – eine gesprengte Öffnung im überhängenden Fels lässt eine bedrängt wirkende Durchfahrt frei, und jeder, der diese Stelle zum ersten Mal erreicht, wird anhalten, um dem schäumenden Fluss zuzusehen, wie er sich durch diese Enge kämpft. Ihr folgt bald eine weite Passage, die breite, kiesgefüllte Ebene einer Flusskreuzung. Die Stelle heißt „Dipotama“ – „Zweifluss“ – denn dort vereint sich, vom Kaliakouda-Gebirge her kommend, der Krikelopotamos mit dem Karpenisiotis zu einem neuen Fluss, dem Trikeriotis, der weiter fließt, unserem Ziel entgegen, nach Proussós. Ein Wegweiser führt zu einer bergaufwärts angelegten Wildwasser-Kayak-Strecke.
Auf unserer Straße mehren sich nun auf den Felswänden interessante geologische Strukturen, ausgedehnte Muster im Gestein, denen der Volksmund Namen und Legenden zugeschrieben hat. So sind bei einer kleinen Kapelle die „Patimata tis Panagias“ – die „Fußabdrücke der Allheiligen Jungfrau“ – zu erkennen, die diese auf dem Weg zu „ihrem“ Kloster Proussós hier hinterlassen hat …
Mutige byzantinische Mönche
Nach einer Kurve erblickt man plötzlich von hoch oben den Gebäudekomplex des Klosters, malerisch auf einer Felsnase vor einem von üppiger Vegetation beherrschten und landwirtschaftlich genutzten Tal gelegen, das sich zwischen die Höhen des Chelidona und Kaliakouda schiebt und weiter hinaus von dem sich in der Ferne verlierenden „Panaitolikó Oros“ begrenzt wird, dessen Gebirgszüge die Grenze zwischen den Provinzen Evrytannia und Aitoloakarnania bilden. Die Klosterkirche der „Panagia Proussótissa“ ist der „Entschlafung Mariens“ geweiht, und am Vortag dieses Festes der Himmelfahrt Mariens, am 14. August, trafen wir ein und fanden die in den Fels gearbeitete Kirche, das Gnadenbild und den Vorhof reich mit Blumen und Kerzen geschmückt. Das wundertätige Marienbild hat der Legende nach der Heilige Lukas persönlich gemalt. Es wird ins 9. Jahrhundert in die Zeit des Ikonenstreits datiert und soll aus der kleinasiatischen Stadt Prousa, dem heutigen Bursa, stammen, woher es vielleicht, um nicht zerstört zu werden, nach Griechenland gerettet wurde. Ob die Namensverwandtschaft zwischen „Prousa“ und „Proussós“ eine Bedeutung hat, ist nicht feststellbar. Jedenfalls wird berichtet, dass es im 10.Jahrhundert von Konstantinopel aus ausgeprägte Bemühungen gab, auch die abgelegensten Gegenden Griechenlands zu christianisieren. Zwei mutige Mönche, Dionysios und Thimotheos, sollen in diese wilde Berglandschaft vorgedrungen sein und an der Stelle des späteren Klosters einen antiken Orakelplatz in eine christliche Gebetsstätte umgewandelt haben. Dabei hätten sie eine ständig brennende Fackel, einen „Pyrsós“, entzündet, aus dem sich der Name „Proussós“ entwickelt haben soll.
Vom Prosciuto zum Proussouto
Während der Freiheitskämpfe des 19. Jahrhunderts diente das Kloster als Lazarett, und der wohl bedeutendste Klephtenkrieger, ab 1826 Oberkommandierende der griechischen Streitkräfte, Georgios Karaiskakis, der selbst dort eine Verwundung ausheilte, soll die Ikone mit Silber haben ummanteln lassen. Im Klostermuseum werden Karaiskakis` Waffen gezeigt.
Das Dorf Proussós liegt auf zwei Ebenen, die obere in 870 m Höhe über Schlucht und Kloster. Eine Aussichtsterrasse im Zentrum erzeugt eine platzartige Weitung, die fast gänzlich von einer „Psystariá“, eine Grilltaverne, die ausgezeichnete klassische Souvlakia zubereitet, besetzt ist. Wir saßen direkt am Geländer über dem Abgrund mit einzigartiger Aussicht zurück in die Schlucht, aus der wir gekommen waren. Zwei Delikatessen- und Andenkenläden, beide mit der Bezeichnung „Allantopoiio tou Christou Stremmenou“ auf denselben Besitzer verweisend, verkaufen „Proussouto“, den einzigen luftgetrockneten Schinken Griechenlands. Mit der humorigen lokalen Umschreibung der italienischen Bezeichnung „Prosciuto“ zu „Proussouto“ und der Qualität dieses Schinkens verbindet sich eine eigene Geschichte: Der ehemalige Botschafter Griechenlands in Rom, Christos Stremmenos, lehrte als Professor für Physikalische Chemie an der Universität Bologna. Er war in Parma als Berater in Produktionsstätten des weltberühmten Schinkens geschätzt. So konnte er entsprechende Herstellungsverfahren und Rezepte in seine Heimat bringen. Seit 1992 werden mitten in einem Tannenwald von Proussós luftgetrocknete Salamisorten und Schinken hergestellt, und wir konnten einen köstlichen „Nachgeschmack“ unseres Ausfluges mit nach Athen nehmen …
Die Dörfer der Region Evrytania halten kulinarische Überraschungen bereit.
Text und Fotos von Ursula Spindler-Niros